Schuppert, Maria

Einen fruchtbaren Boden bereiten

Zur Implementierung der Musikergesundheit in die Hochschulausbildung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2010 , Seite 22

In den vergangenen Jahren haben Musikphysiologie und Musiker­medizin eine kräftige Dynamik erfahren und sich an mehreren Musikhochschulen mit breit gefächerten Konzepten fest im künstlerisch-pädagogischen Ausbildungs­konzept etabliert. Andere Hoch­schulen zögern oder bieten lediglich Minimalvarianten – oft auch aus Unkenntnis der vielschichtigen Inhalte und Intentionen dieses Fachs.

Um eine spezifische Gesundheitsvorsorge für Musikerinnen und Musiker zu etablieren, erhielt der Neurologe und Musikwissenschaftler Kurt Singer bereits 1923 einen musikphysiologischen Lehrauftrag an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin. Er hielt Vorlesungen über „Berufskrankheiten der Musiker und die Grenzgebiete zwischen Musik und Seelenleben“ und richtete eine ärztliche Beratungsstelle an der Hochschule ein. Seine Tätigkeit ging allerdings weit über die arbeitsmedizinische Lehre für Musiker und die musikermedizinische Beratung hinaus: Sie umfasste auch eine allgemeinärztliche Versorgung der Studierenden sowie eine psychologische und zudem ganz praktische Fürsorge. So organisierte Singer u. a. die „Freitische“, um den Hunger der in dieser Zeit oft mittellosen Studierenden zu stillen.1 Er vertrat die Idee der Musikergesundheit also bereits in einem recht breit gefassten Ansatz und war damit aktueller als manche Musikhochschule heute.
Im Jahr 1926 publizierte Kurt Singer seine umfassende Monografie Die Berufskrankheiten der Musiker, übrigens fast zeitgleich mit einer detaillierten musikermedizinischen Abhandlung des Wiener Arztes Julius Flesch, einem Bruder des Geigenpädagogen Carl Flesch.2 Aufgrund seines jüdischen Glaubens musste Kurt Singer die Lehrtätigkeit in Berlin im Jahr 1933 einstellen. Er starb 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt an den Folgen der Haftbedingungen. Nach ihm ist das 2002 gegründete Kurt-Singer-Institut für Musikergesundheit an der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ benannt.

Stillstand und ­Neuanfang

Nach der Pionierzeit von Kurt Singer folgte ein langer musikergesundheitlicher Stillstand. Erst 1974 fasste die Musikphysiologie wieder in einer Musikhochschule Fuß, als unter Leitung von Christoph Wagner an der Hochschule für Musik und Theater Hannover das Institut für experimentelle Musikpädagogik, später umbenannt in Institut für Musikphysiologie, gegründet wurde. Damit war nicht nur die musikphysiologische Lehre wiederbelebt, sondern auch der Grundstein für eine systematische, praxisorientierte musikphysiologische Forschung im unmittelbaren Umfeld der Musikerausbildung gelegt worden.
Christoph Wagner hatte im Anschluss an seine medizinische Ausbildung ein Klavierstudium bei Renate Kretschmar-Fischer an der Hochschule für Musik Detmold absolviert. Der intensive Gedankenaustausch mit seiner Klavierdozentin über die „Mittel und Wege zur Musik“ waren, wie er bemerkte, der Ursprung seiner späteren umfangreichen und wegweisenden musikphysiologischen Forschungsarbeiten.3 Umso mehr erfreut die aktuelle Gewichtung der Musikergesundheit an der Hochschule für Musik Detmold sowie die in der Nachfolge Christoph Wagners erfolgte Ausweitung des heutigen ­Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover mit seinem großen Ambulanz- und Forschungs­bereich.
Seit Mitte der 1980er Jahre, in einem inzwischen stark professionalisierten, perfektionierten Berufsumfeld und unter den Bedingungen eines verschärften Arbeitsmarkts, wird das professionelle Musizieren und Singen tatsächlich vermehrt aus der arbeitsmedizinischen Perspektive betrachtet. Von Seiten der MusikerInnen ist spürbar das frühere Tabu dieser Problematik gefallen und parallel dazu die Sensibilität von Pädagogen, Ärzten und Therapeuten bezüglich einer spezifischen Gesundheitsvorsorge für Musikerinnen und Musiker gestiegen. Eine Reihe groß angelegter Studien zeigte deutlich die Notwendigkeit auf, bereits während der musikalischen Ausbildung ein Bewusstsein für den Umgang mit den individuell gegebenen körperlichen und psychomentalen Kräften zu vermitteln, die Körperwahrnehmung zu schulen und eine individualisierte Vorbeugung zu betreiben.
Allmählich wurden daher auch über Hannover hinaus DozentInnen für Grundlagenveranstaltungen und praktische präventive Angebote an die Musikhochschulen gebunden, zunächst überwiegend mit kleineren Lehraufträgen, an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt jedoch schon frühzeitig mit der Einrichtung einer Professur für Musikphysiologie.

1 vgl. Dietmar Schenk: Die Hochschule für Musik zu Berlin: Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und neuer Musik, 1869 – 1932/33, Stuttgart 2004.
2 Kurt Singer: Die Berufskrankheiten der Musiker, Berlin 1926.
3 vgl. Christoph Wagner: Hand und Instrument. Musikphysiologische Grundlagen – Praktische Konsequenzen, Wiesbaden 2005.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2010.