Hiby, Stefan

Einfach mal mautschen

Gedanken zum Üben – von behutsam bis gar nicht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 3/2021 , Seite 23

Es lohnt sich, dem Wort „üben“ eine kleine Ermutigung hinzuzufügen. Mit diesem Vorsatz sind die folgenden Gedanken aufgeschrieben.

„She’s doing her piano practice“, so würde es wohl in England umschrieben, in Italien als verbo riflessivo „esecitarsi“ – aha, das ist interessant: sich-üben! Wie auch immer: Mit Verstand und eher heimlich gebraucht hat das Wort „üben“ noch seinen Wert. Es ist nun mal inhaltlich unersetzbar. Wie man im Alltag mit dem Wort und dem gemeinten Tun umgeht, das ist schlichtweg „hohe Kunst“.
Eine der unübersehbaren Grundgegebenheiten in Bezug auf Entwicklung, Lernen, Zielentwürfe, Wegbereitung und alle sonstigen Teilaspekte des Phänomens „üben“ ist seine Vielgestaltigkeit. Die eine, allein richtige und allgemein gültige Form und Weisung für das Lernen kann es bei der riesigen Spielbreite individuell unterschiedlicher Voraussetzungen nicht geben.
„Exerzieren“, zu früheren Zeiten im Heereswesen üblich, ist als Begriff für ein musikalisches Kreativfeld im Prinzip untauglich, aber sogar daraus lässt sich ein Spiel ableiten: „Unsere zehn Finger sind ein Fähnlein, die beiden Daumen die Unteroffiziere, heute exerzieren sie ein ziemliches Durcheinander in G-Dur“…
Oder wie wäre es mit „excolieren“? Das ist ein hübscher, etwas altertümlicher, beziehungsreicher Begriff, mit Kulturpflege und Sorgfalt assoziativ verbunden, der Garten- und Umweltfreunden entgegenkommt, aber vielleicht Kinder und Jugendliche nicht gleich lockt. Also bleibt es bei „sich-üben“.
Übe-Vielfalt hat nicht nur mit individueller Variabilität, sondern auch mit Wandlung im Zeitablauf zu tun. Da das Üben unweigerlich mit wie auch immer gearteter Entwicklung verbunden ist, ist auch das Üben selbst in den Entwicklungsprozess eingebunden, das heißt es ändert sich, sowohl hinsichtlich seiner zeitlichen wie inhaltlichen Strukturierung.

Übe-Formen

Übe-Formen (kleine Auswahl): überschwängliches Üben, zwanghaftes Üben, erschöpftes Üben, kraftstrotzendes Üben, selbstbewusstes Üben, zaghaftes Üben, traumverlorenes Üben, humorvolles Üben, analytisches Üben, naives Üben, planvolles Üben, chaotisches Üben, therapeutisches Üben, liebevolles Üben, wachsames Üben, unter- und überfordendes Üben, forschendes Üben, Schaufenster-Üben, körperbetontes Üben, vor- und rückwärts Üben, freudevolles Üben, verzweifeltes Üben, nachdenkliches Üben, intuitives Üben, in Gemeinschaft Üben, einsames Üben, defizitorientiertes Üben, wettbewerbsorientiertes Üben, stummes Üben, Zeitlupen-Üben, Selbstkontroll-Üben mit Tonaufnahme, Vom-Blatt-Üben, auswendig Üben, mental vorbereitetes Üben, unvorbereitetes Üben, Gar-nicht-Üben, behutsames Üben, wildes Üben usw.
Wenn auch die Vielfalt der Übe-Aspekte, von denen ja keiner bedeutungslos ist, sich einer systematischen Festlegung entzieht, so gibt es doch einen gemeinsamen, verbindenden, vielleicht sogar verbindlichen Gesichtspunkt: eine gewisse Form der Regelmäßigkeit. „Häufig und wenig“ ist besser als „selten und viel“ – das ist ein verlässlich bestätigter Erfahrungswert. Und dem „häufig“ darf auch ein kleines Maß an Unregelmäßigkeit beigemischt sein, quasi „synkopisch“ gewichtet. Spielbreite auch hier in sinnvollem Maß!
Nehmen wir einmal die paradoxeste der genannten Übe-Formen unter die Lupe: das Gar-nicht-Üben! Was auf den ersten Blick so widersinnig erscheint, ist tatsächlich in mancher Hinsicht unverzichtbar. Eine Übe-Pause, ein übefreier Tag pro Woche, Ferien usw., das alles dient dem Schutz des zwischenzeitlich Erreichten. Und wie ist es mit Mozart, Beethoven, Schubert? Haben sie viel geübt? Sie haben ohne Zweifel unendlich viel gearbeitet, haben Musik in unglaublicher Fülle erdacht und aufgeschrieben, von Kindesbeinen an, vielleicht auch ab und zu mal eine vertrackte Tonleiterkombination oder einen gebrochenen Dreiklang „geübt“, aber das vermutlich recht selten gebraucht!
Natürlich können wir mit unserer unvergleichlich geringeren Begabung uns das nicht ohne Weiteres zum Vorbild nehmen und tun gut daran, in aller Bescheidenheit an mancher Übegewohnheit festzuhalten, aber der kleine Exkurs zum Nicht-Üben sei doch erlaubt.

Erlaubt ist, was gefällt

Und wie ist es mit dem ganz normal begabten Jugendlichen, der zwar gern mit seinem Instrument unterwegs ist, aber „keinen Bock“ zum Üben hat? Tun wir gut daran, ihm mit abschätzigem Urteil den letzten Rest von Freude am Musizieren zu mindern? Haben wir gut genug verstanden, dass manche Schwierigkeiten beim Instrumentalspiel mit dem Üben erst anfangen? Kurz und gut: Wenn selbst das Gar-nicht-Üben seinen Stellenwert und seine Berechtigung hat, um wieviel mehr alle anderen und sogar die abstrusesten Formen, jedenfalls solange sie irgendwie mit dauer- und glaubhaftem Wohlbefinden vereinbar sind?!
In diesem Zusammenhang sei noch der Kollege erwähnt, der in bestimmten Phasen des Lernwegs seinem Schüler ausdrücklich – und augenzwinkernd – verboten hat zu üben, übrigens mit gar nicht schlechtem, vielleicht sogar wiederum paradoxem Erfolg!
Es ist nicht einfach, aus diesem Gebinde einen Schluss-Knoten zu knüpfen. Was sollen wir nun tun? Nicht ganz ernst gemeint: „misisbeln“ oder „mautschen“. Das sind Kunstworte, die soviel bedeuten wie „mit-sich-und-seinem-Instrument-spielerisch-und-sinnvoll-beschäftigt-sein“ oder „mit-Augenmaß-den-Tatsachen-entgegeneifern-ohne-aufzugeben“. Oder eben ohne viele Umwege, mit Herz und Verstand behutsam Üben!

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