Ensemble Aventure © Anja Limbrunner

Rüdiger, Wolfgang

Ensemble!

Weitgefasste Bedeutung und ­innovative Praxis

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2025 , Seite 12

Das Anliegen der folgenden Ausfüh­rungen ist es, in zwei Abschnitten – einem begrifflich Allgemeinen und einem beispielhaft Konkreten – aufzuzeigen, dass „Ensemble“ in Wort­sinn und Sache eine inno­vative Praxis ist. Der Titel dieser Ausgabe – „Innovative Ensemblepraxis“ – bildet mithin einen Pleonasmus.

Musikalische und soziale Bedeutung

Dass Ensemble und Innovation zwei Wörter sind, die sich gegenseitig verstärken, kann man sich leicht klarmachen, wenn man den Begriff Ensemble mit dem der Kammermusik vergleicht, der auf einen Aufführungsort, die höfische oder häusliche „Kammer“, verweist und primär einen Raumbegriff darstellt.1  Demgegenüber ist Ensemble, von lateinisch „in simul“, ein Zeitbegriff – Musizieren „zur selben Zeit“, „in der Gleichzeitigkeit“ – und zugleich ein sozialmusikalischer Begriff: „zusammen“ Musik machen, im „Zusammenwirken“ ein Ganzes bilden.
Geschichtlich gesehen gehen damit weitere idealtypische Unterschiede einher: Kammermusik ist, bei allen historischen Wandlungen, eine eher intime, exklusive, traditionell notations- und kunstwerkorientierte Gattung in zumeist festen, im 18. und 19. Jahrhundert gewachsenen Besetzungen; Ensemble als Leitidee der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts hingegen eine offene, inklusive, experimentelle Praxis musikalischen Miteinanders in frei gewählten, avantgardistisch neuen, ungewöhnlichen bis variablen Kombinationen von Instrumenten – klassischen, elektronischen, nicht-europäischen, perkussiven – unter Einbezug von Stimme, Körper, Klangobjekten aus Alltag, Natur, Technik, anderen Künsten und Medien. Eine Gattung jenseits aller Gattungen mit einem Normen sprengenden, positiv formuliert: Regeln und Formen von Musik fortwährend neu erfindenden Innovationspotenzial.
Die historisch-systematische Perspektive lässt sich mit einem praxisbezogenen Verständnis von Musik als Ensemble geformter Klänge – des Körpers, diverser Instrumente – in Verbindung bringen, die von frühester Kindheit bis zu kulturell entfalteten Formen auf Emo­tion und Gemeinschaft zielen, mit allen Sinnen verbunden sind und im Laufe der Entwicklung immer wieder neue Verbindungen eingehen.2 Entsprechend multimedial, performativ und innovativ ist die Realisation symbolischer „Ensembles von Tönen“ durch soziale, zumeist freie und flexible Ensemblekörper.
Ins Leben tritt die Idee in der politisch-kulturellen Umbruchszeit um 1900. Aus einem gewandelten Ausdrucksbedürfnis entsteht hier in Werk und Wiedergabe eine „Neue Musik“ (Paul Bekker) jenseits durmolltonaler Hierarchien, deren Medium und Experimentierfeld nicht vorrangig Kammer- und Orchester-, sondern Ensemblemusik ist. Dass seither „das Komponieren für ein Ensemble höchst individueller Instrumentalisten gleichen Ranges sozusagen die emanzipierteste Form von Musik überhaupt“ darstellt,3 gründet sowohl in der neu gewonnenen Wahlfreiheit für alle möglichen nicht-standardisierten Klangkombinationen und -konstellationen als auch in einer neuen Qualität des Miteinanders mit Respekt vor dem Einzelnen. Das gilt nicht allein für Proto­typen neuer Ensemblemusik wie Schönbergs Kammersymphonie op. 9 (1906) oder Hindemiths Kammermusik Nr. 1 op. 24 für 12 Soloinstrumente (1922), sondern im Prinzip auch für Orchesterformationen, die im Geist von Ensemblespiel agieren.
Der Gedanke eines freien Miteinanders gleichwürdiger Einzelner regt dazu an, dem Wortkörper tiefer auf den Grund zu gehen. Und da erschließt die Schreibweise „Mit-Ein-Ander“4 ein grundlegendes Merkmal: Ensemble meint „Mit“-Sein im Wechselspiel von Einem und Anderem, Einzelnem und Gemeinschaft, „Sozialität und Alterität“,5 gestalttheoretisch gesprochen: Teil und Ganzem, das immer etwas anderes ist als eine bloße Summe seiner Teile. Diese Auffassung von Ensemble als soziales und musikalisches „Mit-Ein-Ander“ – der Eine ist stets auch ein Anderer – wird gestützt durch eine weitere Tiefenschicht der Wortherkunft: Wie im Zentrum des Wortes Ensemble die indogermanische Silbe sem = eins steht, so formt und fügt sich im Ensemble von gleich­berechtigt „sich aufeinander einstimmenden“ Musizierpartnern6 ein Stück Ensemblemusik zu einer ebenso dynamischen Ganzheit, wie die MusikerInnen im Geiste der Musik zusammenwachsen und in all ihrer Verschiedenheit eine fragile Einheit verkörpern, die fortwährend neu auszuhandeln ist – Ensemble als innovative Praxis, in der Musik als Ensemble und das Ensemble der Spielenden sich wechselseitig bilden und verändern.

1 vgl. Schwindt, Nicole: Artikel „Kammermusik“, in: Die Musik in ­Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Band 4, Kassel 1996, Sp. 1618-1653, hier: Sp. 1618 f. Die „Kammer“ als „sozial hochrangige(r) Ort des Hofes“ bezeichnet indes sowohl einen engeren, „privaten herrschaftlichen“ als auch einen nichtprivaten, offenen Bereich „für die weitere Hofgesellschaft sowie Gäste“, mit fließenden Übergängen (ebd., Sp. 1619). Zum Terminus, mit Schwerpunkt Oper, vgl. auch ­Rienäcker, Gerd: Artikel „Ensemble“, in: MGG Online, 2016, www.mgg-online.com/mgg/stable/533689 (Stand: 17.4.2025).
2 vgl. Trevarthen, Colwyn: „Kindliche Gesten und die intuitive Bedeutung der Musik“, in: Eggers, Karin/Grüny, Christian (Hg.): Musik und Geste. Theorien, Ansätze, Perspektiven, Paderborn 2018, S. 315-345, hier: S. 316 ff.
3 Oelschlägel, Reinhard: „Instrumentalensemblemusik und Instrumentalensembles in Deutschland“, in: Neue Musik seit den achtziger Jahren. Eine Dokumentation zum deutschen Musikleben, Band 2: Essays, hg. von Martin Thrun im Auftrag der Gesellschaft für Neue Musik, Regensburg 1994, S. 23-30, hier: S. 23.
4 So als Sinn des Seins die Schreibweise bei Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein, Berlin 2012 (1. Aufl. 2004), S. 14, 19, 21.
5 Waldenfels, Bernhard: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015.
6 Als Fundament aller Kommunikation, vgl. Schütz, Alfred: „Gemeinsam musizieren. Die Studie einer sozialen Beziehung“ (1951), in: ders.: ­Gesammelte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie, hg. von Arvid Brodersen, Den Haag 1972, S. 129-150, hier: S. 132 und 149.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2025.

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