Reid, Cornelius L.

Erbe des Belcanto

Prinzipien funktionaler Stimmentwicklung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: üben & musizieren 1/2010 , Seite 58

Wieder einmal setzt sich ein Experte mit dem Phänomen Stimme auseinander. Wieder einmal soll ein neues Buch helfen, die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis zu verringern. Wer wäre berufener als Cornelius Reid, der sich mit seiner Stimmarbeit und seinen Aufsätzen und Büchern als kompetenter Lehrer und Vermittler profiliert hat?
Das Buch befasst sich mit zwei zentralen Begriffen: dem Belcanto und dem Stimmregister. Reid versucht im ersten Teil – auch mithilfe von Zitaten anderer Autoren – eine Definition, die dem, was man unter Belcanto versteht, näherkommt. Vor allem weist er auf die Weiterentwicklung der Interpretation des Begriffs hin, der schließlich 300 Jahre alt ist und schon aus diesem Grund für Uminterpretationen prädestiniert ist.
Zwar ist der „schwa-Laut“ nicht ganz klar beschrieben, zwar könnte man in Bezug auf den Begriff „Stütze“ noch genauer bzw. einfacher sein. Aber insgesamt bringt Cornelius Reid viele Dinge auf den Punkt. Herzerfrischend und wohltuend ist sein Satz: „Wegen der Vorrangstellung der Kehlkopfmechanismen sollte man alle Vokale als ‚hinten sitzend‘, das heißt kehlkopforientiert, betrachten.“ Treffender ist diese Tatsache nirgends in der Literatur formuliert.
Reid beschreibt im zweiten Teil die von ihm vertretene Zwei-Register-Theorie, die er vor wissenschaftlich unanfechtbarem Hintergrund aufstellt. Er sagt: „Es gibt nur zwei Muskelsysteme, die die Stimmlippen verändern und ihr Schwingungsverhältnis konstant halten; also gibt es auch nur zwei Register.“ Er scheut sich nicht, andere Autoren konstruktiv zu kritisieren oder auch umgekehrt Literaturempfehlungen auszusprechen. Er erkennt und moniert, dass Themenbereiche hemmungslos vermischt und dadurch unklar werden. Er findet deutliche Worte gegen so manche wissenschaftliche Erhebung und deren Resultat. Aber genauso wie er positive Ergebnisse heraushebt, so grenzt er sich und seine Theorie – zur Vermeidung von Missverständnissen – klar gegen die eine oder andere Schlussfolgerung ab.
Als Hilfestellung für interessierte LeserInnen nennt er als Quellen die Schriften von Sängern und Theoretikern wie Tosi, Ferri, Mancini und Manfredini und erläutert sie vergleichend. Er wirft nicht alles über Bord, was vorher erforscht und geschrieben wurde, sondern er begleitet den Leser geduldig auf dem Weg zum tieferen Verständnis dessen, was Stimme ausmacht: ein selbstbewusstes Buch mit klarer Haltung und eindeutigen Aussagen.
Als Ergänzung findet man noch einen Beitrag von Carol Baggott-Forte mit dem Thema: „Hätte man die Stimme von Maria Callas retten können?“ Sie beschreibt die körperliche Seite wie Nahrungsmangel in Kriegszeiten und ihre große Diät, aber auch gesangstechnische Probleme, mit der Callas von Beginn ihrer Karriere an zu kämpfen hatte – ein interessanter Exkurs über die Problematik einer unvergleichlichen Jahrhundertstimme.
Annette Brunsing