Lessing, Wolfgang
Erfahrungsraum Spezialschule
Rekonstruktion eines musikpädagogischen Modells
Die ehemaligen Spezialschulen der DDR stellen ein vielbeschworenes und vieldiskutiertes Beispiel musikalischer Begabungsförderung dar. Die Diskussion über ihre Potenziale und Grenzen, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen erfolgte aber bis jetzt auf der Grundlage subjektiver Erfahrungen und Berichte: Eine wissenschaftliche Annäherung an dieses Modell musikalischer Ausbildung stand noch aus. Mit seinem Buch unternimmt Wolfgang Lessing in Zusammenarbeit mit Maria Berge, Carola Klinkert und Anne-Kathrin Wagler den Versuch, diese Lücke zu schließen und liefert damit einen ungemein relevanten Beitrag zur Aufarbeitung eines zentralen Abschnitts musikpädagogischer Geschichte und zum Diskurs der Begabungsforschung und Begabungsförderung.
In der Publikation wird ein empirisches Forschungsprojekt geschildert, das darauf zielte, die Spezialschule für Musik Dresden im Zeitraum zwischen 1965 und 1990 als Erfahrungsraum zu erfassen, das heißt die expliziten und impliziten Regeln zu rekonstruieren, die diesen Erfahrungsraum hervorbrachten und das Handeln der Akteure im Spannungsfeld zwischen objektiven Strukturen und subjektiven Spielräumen zu betrachten.
Das Ergebnis ist beeindruckend: Die Spezialschule Dresden erscheint als ein komplexes Beziehungsgeflecht, geprägt von Antinomien, Passungsprozessen und Wirkkräften, die ihrerseits unterschiedliche Schülertypen und Handlungsmöglichkeiten hervorgebracht haben. Bei der Lektüre staunt man darüber, wie viel von dieser zeit- und kontextspezifischen Institution in den aktuellen Musikhochschulen wiederzuerkennen ist: Der Autor bleibt aber bei der Diskussion der Ergebnisse konsequent kritisch und arbeitet Gemeinsamkeiten und Besonderheiten behutsam heraus.
Besonders interessant erscheint mir die Verknüpfung der gewonnenen Erkenntnisse mit den zentralen Thesen der Expertiseforschung: Phänomene wie etwa die für MusikexpertInnen typische, intrinsische musikbezogene Motivation oder der Zusammenhang zwischen Vorstellungen von musikalischer Begabung und Selektionsprozessen erscheinen hier in einem anderen Licht und erhalten dadurch neue Facetten und schärfere Konturen.
Das Buch richtet sich sowohl an ein wissenschaftlich geschultes Publikum als auch an PratikerInnen, die in der Spitzenförderung tätig sind. Es liefert nicht nur fachliche, sondern auch theoretische und methodische Impulse: Die Verortung und Bestimmung des Begriffs Schulkultur wie auch die plastische Schilderung der dokumentarischen Methode bieten konkrete Anknüpfungspunkte für künftige Forschungsprojekte. Wissenschaftlichen Laien mutet dieser anspruchsvolle Text einiges zu. Trotzdem ist die Bemühung des Autors spürbar, komplexe Zusammenhänge verständlich darzustellen.
Natalia Ardila-Mantilla