Humperdinck, Engelbert

Erinnerung

für Klavier, Erstveröffentlichung hg. von Hinrich Alpers

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2021
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 60

Diese Publikation zum 100. Todestag des Komponisten 2021, der auch mal Lektor im Schott-Verlag war, enthält ein kleines Klavierstück, das der damals 17-jährige Komponist 1871 seiner Schwester Ernestine ins Poesiealbum geschrieben hat. Das vorliegende Heft bringt zunächst Fotografien des vollständigen Stücks aus diesem Album. Der neu gesetzte Notentext im Anschluss wurde von Hinrich Alpers herausgegeben und mit Fingersätzen versehen. Alpers hat das Stück auch uraufgeführt und aufgenommen, wie einer Notiz zu entnehmen ist. Auf welchem Wege das Album der Schwester gefunden wurde, ist aus den Vorbemerkungen von Kai Diekmann und Henry C. Brinker nicht klar zu entnehmen, vermutlich war es noch in Privatbesitz. Es wird aber darauf hingewiesen, dass das Stück eines der ganz wenigen ist, die aus der Jugendzeit des Komponisten erhalten sind.
Das Stück umfasst 31 Takte und zeigt einen auf den ersten Blick konventionellen Klaviersatz, der eine Melodie in der rechten Hand, eine Bassführung links und dazwischen – meist auf beide Hände aufgeteilt – repetierende Akkorde zur Auffüllung der Harmonie enthält. Formal fällt auf, dass nach einem ersten Teil in Form einer achttaktigen Periode in A-Dur und einem ebenso erwartbaren achttaktigen Mittelteil, der sich zunächst nach h-Moll wendet und dann in die Grundtonart zurückkehrt, nicht die übliche Reprise erfolgt. Es erklingt eine viertaktige Phrase, die die Tonart befestigt und nur entfernt an melodische Fragmente des Anfangsthemas erinnert. Von da an folgt eine lange Coda von 11 Takten, was für ein solch kurzes Stück durchaus ungewöhnlich ist. Dynamisch geht die Bandbreite von piano bis forte, wobei das mehrfache Auftreten der Bezeichnung pF (wohl piú forte) auffällt.
Überall kann man Anzeichen für das orchestrale Denken des Komponisten finden. Die Melodie erscheint mal einfach, mal in Oktaven, also quasi verschieden instrumentiert. In der Coda gibt es kurze Dialoge zwischen Sop­ran und Tenor. Einmal klingen in der Mitte zwischen Melodie und Bass nachschlagende Töne mit Vorschlägen, die in der rechten Hand teilweise eine Dezime vom dazugehörigen Melodieton entfernt sind. Das ist für kleine Hände kaum zu greifen. Hinrich Alpers lässt dort Vorschlags- und Hauptnote beide mit dem Daumen spielen. Das ist die einzige Möglichkeit, aber selbst so kann man die Melodie mit den Fingern nicht wirklich gut binden. Natürlich hilft das Pedal, das aber nur an wenigen Stellen vom Komponisten vorgegeben wurde.
Insgesamt ist das Stück nicht ganz so leicht, wie man bei diesem Genre und dem geringen Umfang denken könnte. So, wie dem Komponisten die Ideen für den Klaviersatz sicher aus einer Vorstellung verschiedener Ins­trumente kamen, lassen sich die daraus resultierenden pianistischen Schwierigkeiten aber mit ebensolchen Vorstellungen gut bewältigen.
Linde Großmann