© Theo Stenert

Levens, Ulla

Erstauntes Erleben

Freie Improvisation im inklusiven Ensemble BlueScreen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2019 , Seite 44

In Kooperation mit einem Olden­burger Hörforschungsinstitut wurden für das inklusive Ensemble Blue­Screen bewegungsgesteuerte ­elektronische Musik­instrumente entwickelt, um das Instrumentarium des En­sembles zu ergänzen und so die Kommunikations- und Ausdrucks­möglichkeiten der Gruppen­mitglie­der zu erweitern. Ulla Levens gibt Einblicke in Konzeption und ­Proben­arbeit dieses besonderen Ensembles.

Seit 1998 ist das Blauschimmel Atelier in Oldenburg ein Ort gelebter Inklusion: offen für jede Form von künstlerischer Vielfalt. Das Atelier bietet einen Freiraum der Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Beeinträch­tigung aus unterschiedlichen Generationen, Kulturen und sozialen Lebensbedingungen. „Die Kurse sind offen für alle und können ohne Vorkenntnisse besucht werden. In den Kursen arbeiten wir thematisch mit dem Ziel, die Ergebnisse öffentlich zu präsentieren. Der größte Teil unserer Arbeit wird ehrenamtlich geleistet.“ (Flyer des Blauschimmel Ateliers Oldenburg, 2018)
Ein Kursangebot des Ateliers ist das Musikensemble BlueScreen. Für die Teilnehmenden sind diese Treffen etwas sehr Besonderes: zum einen weil sie in ihrem Alltag keinen Zugang zum Lernen und Üben von Musikinstrumenten haben, zum anderen weil sie hier in einer Gruppe von Menschen mit und ohne körperliche und/oder geistige Behinderung im gemeinsamen Musizieren auch den sozialen Umgang miteinander pflegen.
Um die 15 Personen kommen einmal pro Woche in dem von der Stadt Oldenburg bereitgestellten Raum für zwei Stunden zusammen, um unter der Leitung des Musikers und Musikpädagogen Jochen Fried zu improvisieren. Kommunikation steht im Vordergrund dieses wöchentlichen Treffens, ein niederschwelliges Arbeiten nach einem offenen Spielkonzept, das alle Anwesenden zum Mitmachen einlädt. Der große Arbeitsraum ermöglicht eine Teilung in Zuschauerraum mit Stuhlkreis und Bühne, beides barrierefrei.
Mit einem herzlichen Willkommen geht es los: ein kurzer verbaler Austausch von zwischenzeitlich Erlebtem, die Instrumente werden bereit­gestellt, die Bühne wird startklar gemacht. Dann bündelt Jochen Fried die Aufmerksamkeit der Gruppe, die sich in einem großen Stuhlkreis zusammengefundenen hat. Das Anfangsritual „Fuß – Fuß – Klatsch – Zeig“ (Tipp mit rechtem Fuß, mit linkem Fuß, in die Hände klatschen, mit dem Zeigefinger auf jemanden zeigen) baut er schrittweise auf: eine Ich-, Du-, Wir-Erfahrung, die konzentriert und mit beeindruckender Power von allen gleichzeitig ausgeführt wird.
Anschließend stimmt Jochen Fried die große Gruppe auf das Musizieren ein. Es geht darum, Kopf und Körper wie ein Gefäß zu leeren, damit die im Moment entstehende Musik aufgenommen werden kann. Fried wendet sich nicht nur an die Gruppe, die sich auf der Bühne zum Spielen zusammengefunden hat, sondern auch an das Publikum: „Alles Gesehene und Gehörte tief und genüsslich aus­atmen. Konzentration, ich bitte um Ruhe, das ist ganz wichtig. Versuchen wir es noch einmal: alle genüsslich ausatmen.“ Und jeder nimmt mit einem Atemzug die Arme ganz hoch und bringt sie dann langsam mit dem Ausatmen Richtung Boden. „Lausche in die Stille in dir, spüre, wie der Boden dich trägt. Hellwach und ganz entspannt und aus der Stille in dir kommt die Musik. Hört aufeinander, spielt miteinander, vergnügt euch!“

Dudel-Box und Theremin

Und nun Bühne frei für die ad hoc zusammengestellten Ensembles von sechs bis acht Personen. Im Lauf des Abends sollte jeder mindestens einmal Musik gemacht haben. Insgesamt gibt es sechs Spiel- und Refle­xionsphasen von jeweils drei bis fünf Minuten Dauer. Der Charakter der Stücke ist so unterschiedlich wie das eingesetzte Instrumentarium. Die elektronischen Klangerzeuger ergeben interessante Klangkontraste in analog erzeugtem Klanggewebe. Farbige Pro­jektionen als Bühnenbilder geben Musizieren­den und Zuschauenden anregende Impulse. Viel Freude machen SpielerInnen und Pub­likum die experimentierfreudig tanzenden Kör­pergesten an einem theremin-ähnlichen, selbst entwickelten und gebauten Instrument, die als Rauschen und Sinustöne hörbar sind. Konzertsituationen werden simuliert, in Stille wird begonnen und geendet, Applaus, eine Feedbackrunde mit Sprechen über die gemeinsam erlebte Musik schließt sich an.
Zum Inventar des Ensembles gehören Akordeon, Kontrabass, Gitarre, Kleinpercussion, Keyboard, Geige, Cello, Trommeln, Cajon, Trompete, Röhrenglocken, Gewitterbox, eine Klavierwand; sogar ein metallener Brotkorb mit Streichbogen steht für Klangaktionen bereit. Neu dabei sind Dudel-Box und Theremin-Eigenbau, die Highlights des heutigen Abends. Analoge und digitale Technik kommen bei BlueScreen zum Einsatz, um individuelles Gestalten mit Klängen zu einem gemeinsamen Kunstschaffen zu verbinden. Die Konstruktion der beiden einfach zu bedienenden, innovativen digitalen Musikinstrumente ist Teil von „Motion, Sound and Elec­tronics“, einem Kooperationsprojekt zwischen dem BlueScreen Ensemble und der HörTech gGmbH, einem Oldenburger Institut der Hörforschung.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2019.