© Sabine Braun

Meier, Ursula

„Es gibt kein falsches Singen, nur Variationen“

Das Netzwerk Singende Krankenhäuser e. V. fördert das heilsame Singen in Gesundheitseinrichtungen

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 1/2019 , Seite 42

Singen ist ein uraltes Kulturgut, sei es zur Gemeinschaftsbildung, bei medizinischen oder religiösen Ritualen oder Lebensübergängen. Singen hat eine besondere Kraft, denn Körper, Geist und Seele werden gleichermaßen erreicht. Das internationale Netzwerk Singende Krankenhäuser e. V. will diese Kraft in Gesundheitseinrichtungen und Selbst­hilfegruppen nutz- und erfahrbar machen. Denn kranke Menschen oder Menschen mit altersbedingten Einschränkungen können davon besonders profitieren.

Zahlreiche Forschungen und Studien belegen die vielfäl­tigen gesundheitsfördernden Wirkungen des Singens auf Körper, Geist und Seele: Atemvertiefung, vegetative Harmonisierung, hormoneller Glückscocktail im Gehirn (angst­lösendes Antidepressivum), soziale Begegnung, Selbstwirksamkeit, Sinngebung und Hoffnung.
Als Singleiterin erlebe ich, wie sich während des Singens gesunde und kranke Menschen begegnen, aus allen Ländern und Kulturen, und einander annehmen und wertschätzen. Bei kranken Menschen steht für diese Zeit nicht die Krankheit im Mittelpunkt, sondern die emotionale Tiefe oder auch die Leichtigkeit des Singens, die Begegnung, das Miteinander; auch das Lied selbst, das so tief berühren kann, Freude erleben und auch Trauer gemeinsam ertragen lässt. Durch das Singen wird etwas im Menschen angesprochen, das gesund und nicht krank ist, das weder alt noch jung ist. Mit Menschen in Alters- und Pflegeheimen oder in der Geriatrie psychiat­rischer Kliniken singe ich zum einen Volkslieder, religiöse Lieder, Schlager, Pop und Rock, die sich tief ins Gedächtnis eingeprägt haben und auch bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen teilweise noch abrufbar sind. Zum anderen aber auch sogenannte heilsame Lieder, bei denen man „chanten“ kann, die mit einfachstem Text und ohne Noten völlig leistungsfrei mit vielen Wiederholungen gesungen werden: Singen ist Medizin, In mir ist Ruhe, Lache in die Welt hinein oder Taschentücher raus. Auch fremdländische Lieder kom­men erstaunlich gut an wie etwa The river is flowing.
Es ist sehr bereichernd mitzuerleben, wie Menschen durch das Singen aufblühen, zu mehr Wohlbefinden, Lebensqualität und Lebensfreude finden. Besonders berührt hat mich z. B. Frau H., die unter anderem an Demenz erkrankt war. Sie wurde von ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern gemieden, konnte sich nicht mehr an Gesprächen beteiligen, verströmte durch ihre schwere Krankheit einen speziellen Duft, der alle abschreckte. Frau H. zog sich beschämt immer mehr zurück, reagierte oft aggressiv, sprach immer weniger, saß in einer Ecke und beteiligte sich kaum noch an Aktivitäten. In der Singgruppe blühte sie jedoch auf und vertraute mir irgendwann an, dass sie ein ganz besonderes Lieblingslied hätte, das sie mir gerne vorsingen würde. Ich war sehr berührt. Frau H. stand auf und sang voller Inbrunst ein mir völlig unbekanntes Lied aus einem Dorf in den Bergen vor, das sie von früher her kannte. Daraus ergab sich ein wunderbarer Austausch. Ich schreibe bewusst „Austausch“, da Frau H. nicht mehr fließend sprechen konnte. Durch gezieltes Nachfragen erfuhr ich nach und nach, weshalb ihr dieses Lied so viel bedeutete. Sie musste ganz jung von zuhause fort, um in diesem Dorf zu arbeiten und Geld zu verdienen. Sie musste schwer arbeiten und war dort allein und fühlte sich einsam. Das Lied beschrieb die Landschaft und die Besonderheiten dieses Dorfes, das ihr sehr gefiel. Das Singen dieses Liedes half ihr damals in schweren Stunden über alles andere hinweg.
Später traute sich Frau H., es auch in der Singgruppe – stehend! – vorzusingen, was sie dann in jeder Singstunde wiederholte. Ich betone das „stehend“, weil sie normalerweise im Rollstuhl saß! Wie schlecht es Frau H. auch ging: Wenn ich sie fragte, ob sie noch ihr Lied singen möchte, stand sie auf und sang es. Sie wurde jedes Mal nicht nur von ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern beklatscht und bewundert, sondern auch vom Pflegepersonal. Alle lobten sie und freuten sich mit ihr. Es ist unbeschreiblich, wie diese schwerkranke Frau aus dem tiefsten Inneren singen und ihre Gefühle ausdrücken konnte und dabei strahlte.
Einige Monate danach wurde Frau H. immer schwächer und hatte nicht mehr die Kraft, das Lied selbst zu singen. Sie konnte mir jedoch noch alle vier Strophen einzeln vorsprechen (obwohl sie sonst nicht in ganzen Sätzen sprach), sodass ich ihr kurz vor ihrem Tod das Lied Strophe für Strophe vorsingen konnte. So haben wir einander an den Händen gehalten, es gemeinsam gesungen und ich spürte bei ihr und auch bei mir eine tiefe Dankbarkeit für dieses Miteinander und diese Begegnung von Herz zu Herz. In der Sterbebegleitung kann das Singen, das Sich-berühren-Lassen zu innerer Ruhe und Frieden beitragen.
„Es gibt kein falsches Singen, nur Variationen“ – eine wunderbare Aussage, die vom Netzwerk Singende Krankenhäuser e. V. geprägt wurde. Dadurch trauen sich viele Menschen wieder, sich singend auszudrücken und über sich hinauszuwachsen. Auch für Berufssängerinnen und -sänger bedeutet das heilsame Singen Erleichterung und Entspannung. Ich selbst bin zum Netzwerk gekommen, weil ich mich von einer Weiterbildung im Bereich des heilsamen Singens angesprochen fühlte. Als Gesangspädagogin eröffnete sich mir dadurch ein ganz anderer Zugang zum Singen. Da ich diese Erfahrungen auch in meine Arbeit in einem Schweizer Altersheim integrieren und mein Arbeitsfeld mit der Psychiatrie erweitern wollte, absolvierte ich anschließend noch Singleiter-Weiterbildungen für Altersheime und Krankenhäuser. Dort lernt man, Singgruppen in spezifischen Arbeitsfeldern anzuleiten, etwa in der Psychiatrie, im Hospiz, bei Parkinson, bei psychosomatischen Störungen oder Erkrankungen der Atemwege. Viele Singleiterinnen und -leiter haben kurze, einfache Lieder komponiert, die sofort auswendig gesungen werden können. Diese sind in Singbüchern veröffentlich worden.
Singende Krankenhäuser e. V. hat das heil­same Singen seit seiner Gründung im Jahr 2009 international verbreitet. So gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz bereits etwa 100 zertifizierte „Singende Krankenhäuser“ und „Singende Altersheime“.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2019.