Lehmann, Judith

Es lebe Prokofjew!

Die Geschichte von Rafael, Peter und dem Wolf...

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2011 , Seite 50

“Lernen im sozialen Kontext”: In den Beiträgen zum Thema dieser Aus­gabe war die Rede vom Lernen in der “Community of Practice”, vom “Lernen im Leben” und der Situation des muttersprachlichen Lernens. Doch was bedeutet das konkret? Wie sieht es aus, wenn ein Kind von Prokofjews Erfolgsstück so ergriffen wird, dass es selbst zum Wolf wird?

Es begann alles mit einem kleinen Buch, von Oma zu Ostern geschenkt. Eine mittelmäßige Malerin verewigt mittelmäßige Bilder. Rafael, drei Jahre alt, stört sich nicht daran, dass – naive Malerei hin oder her – der Baum einmal links, einmal rechts neben dem Haus steht und bisweilen der Zaun durch eine Friedhofsmauer ersetzt ist. Hier sind Personen ebenso wie Tiere kitschig-uninspiriert dargestellt. Aber auch dieser Umstand vermag Rafaels Begeisterung nicht zu schmälern. Für ihn zählt nur eins: Auf seinem Lieblingsbild, dem Bild mit der Ente, sperrt der „riiiiiesengroße graue Wolf“ sein „Riiiiiesenmaul“ auf und lässt die weißen Beißerchen blinken. „Uaaaaa“, brüllt Rafael naturgetreu – und seine kleine Schwester Amelie gleich mit. Ja, das versteht sie, lautmalerisch, dieses Wort, wirklich schön.
Wirklich schön am Bilderbuch ist allerdings, dass am Ende die Ente sichtbar im Magen des Wolfes sitzt, der soeben vom gesamten Ensemble in Richtung Zoo abgeführt wird. Dieses Bild geht auch der Kinderlogik ein, ­sodass das Ententhema, gleich nach dem Wolfsthema, das von uns meistgesungene ist. Werde ich doch in regelmäßigen Abständen von Rafael zurechtgewiesen: „Mama, was singst du denn so laut?“, wenn ich das Ententhema wiedergebe, das Rafaels Ansicht nach nicht genügend der armen, weinenden, halbtoten, seit Stunden im Magen des Wolfes hockenden Ente nachempfunden ist. Nein, zittrig muss es sein, dünn und brüchig, die letzten Atemzüge aushauchend. Dann erst ist der kleine Mann zufrieden. Und trage ich es schließlich, alle nötige Emotion in mir zusammenkratzend, dementsprechend vor, blickt er mich an und fragt mitfühlend: „Mama, warum schaust du denn so traurig?!“

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2011.