Ruža Nikolić-Lakatos (1945–2022), © Gerhard Maurer

Hemetek, Ursula

Ethnomusikologische Erkundung

Von der Vielfalt der Musiken und dem Umgang damit

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 16

1988 hörte ich in einem Dokumen­tarfilm das Lied einer Romasängerin. Sie sang in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte, die Melodik war fremd und gleichzeitig faszinierend ­– und die Brücke, auf der sie sang, befand sich in Wien, in meiner Stadt. Die Erkenntnis, dass hier in meiner Nähe eine musikalische Welt existiert, von der ich nicht die leiseste Ahnung hatte, war die Motivation, mich dieser Welt und dieser Musik anzunähern.

Seit mehr als 40 Jahren ist mein Forschungsgebiet Musik und Minderheiten. Deshalb sind auch die musikalischen Ausdrucksformen von Minderheiten in diesem Beitrag mein Ausgangspunkt. Darüber hinaus möchte ich Institutionalisierungen hegemonialer Musikstile hinterfragen, da ich seit mehreren Jahrzehnten an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), einer der größten Musikuniversitäten der Welt arbeite. Sie steht seit über 200 Jahren für westeuropäische klassische Musik. Es hat lange gedauert, bis es möglich wurde, auch andere „Musiksprachen“ im Haus heimisch zu machen. Dies war meine Agenda, seit ich begann, an dieser Universität als Ethnomusikologin zu arbeiten.1
Unserem Fach ist es eigen, die vielfältigen Musikstile der Welt gleichberechtigt wahrzunehmen und uns mit einzelnen von ihnen näher zu beschäftigen. Dabei geht es weniger um westliche Klassik, sondern vor allem um außereuropäische Kunstmusikstile, vokale Ausdrucksformen indigener Gruppen, Stile populärer Musik von zugewanderten Gruppen oder eben auch um traditionelle Musikstile, die in manchen Konstellationen „Volksmusik“ genannt werden. Wir beschäftigen uns damit, welche Bedeutungen und Zuschreibungen diese Musiken haben, in welchem Kontext sie erklingen und gebraucht werden. Insbesondere die große Bedeutung, die manche Musikstile für einzelne Gruppen von Menschen haben, der Gebrauch und der niederschwellige Zugang – all das hat mich, aufgewachsen mit klassischer Musik und den zugehörigen Ritualen, fasziniert. Das war eine andere Welt – oder vielmehr: Es waren andere Welten, die sich mir eröffneten. Ich fand sie vor meiner Haustüre, denn Österreich und auch Deutschland sind von Zuwanderung geprägt – und zwar seit Jahrhunderten.
Mit den Menschen kamen und kommen auch musikalische Ausdrucksformen, Musikinstrumente, Gesangsstile, die nach einiger Zeit auch hier heimisch werden. Allerdings existieren diese Musikstile nicht gleichberechtigt, genauso wie die Menschen, die sie praktizieren meist nicht gleichberechtigt sind, sondern auf unterschiedlichsten Ebenen Diskriminierung erfahren und aufgrund unterschiedlicher Merkmale wie Ethnizität, Sprache oder Religion Minderheiten sind. In der Minderheitendefinition, die ich aufgrund jahrelanger Diskussion auf internationaler Ebene verwende, geht es nicht um geringere Zahl, sondern um geringere Macht. Im von mir 2019 gegründeten Music and Minorities Research Center (MMRC) beschäftigen wir uns mit der Frage, „welche Rolle Musik im Kontext der Beziehungen zwischen hegemonialen und marginalisierten sozialen Gruppen innerhalb von Gesellschaften spielt“.2 In der Auseinandersetzung mit dieser Ungleichheit kann Musik nämlich eine wesentliche Rolle spielen, denn Musik ist wirkmächtig: Sie kann der Identifikation ebenso wie der Repräsentation dienen.
Die Vielfalt der Musikstile „vor der Haustüre“ ist groß, und ich habe mich nur mit einigen beschäftigt. Jede dieser Musiken existiert in einer ganz bestimmten Lebenswelt und rund um die jeweilige Musik gilt es viel zu lernen, wenn man sich forschend damit auseinandersetzen will. Nach 40 Jahren finde ich es immer noch spannend, Neues zu entdecken.

Faszination als ­Motivation – mein Weg zur Romamusik

Am Anfang meiner Annäherung an die musikalische Welt der Roma und Sinti stand ein Dokumentarfilm (ORF 1988), der den programmatischen Titel Ihr werdet uns nie verstehen trug.3 Es war insgesamt eine sehr einfühlsame Dokumentation, die mir einen Blick auf eine Welt gestattete, von der ich vorher nichts gewusst hatte. Nicht umsonst hieß das im gleichen Jahr erschienene, von Ceija Stojka verfasste Buch Wir leben im Verborgenen – Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin. Es war das erste Mal, dass eine Romni in Österreich schreibend an die Öffentlichkeit trat – mit der Aufarbeitung ihrer KZ-Geschichte.4
1988 war der Informationsstand über „Zigeuner“ in der Öffentlichkeit sehr gering. Selma Steinmetz (1966)5 und Erika Thurner (1983)6 hatten zwar bereits über die Verfolgungsgeschichte publiziert und Claudia Mayerhofer eine volkskundliche Dissertation über die Burgenlandroma vorgelegt,7 aber diese Erkenntnisse verblieben weitgehend im wissenschaftlichen Elfenbeinturm. Das „Bedenkjahr“ 1988 (50 Jahre „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland) war eine gute Ausgangsbasis, denn es wurde nun auch die Verfolgungsgeschichte von Roma und Sinti im Nationalsozialismus thematisiert. Ich begann, mich zu informieren, zunächst in der Fachliteratur und der Schallplattensammlung des Instituts für Volksmusikforschung. Dort gab es einiges aus Ungarn, aber nichts aus Österreich. Ich fragte verschiedene Menschen und kam zunächst nicht weiter.

Feldforschung ist das Erfahren von Zusammenhängen, in denen Musik eine Rolle spielt, die Erhebung der ­Voraussetzungen, Bedingungen und Bedeutungen der Musik selbst wie auch deren Bedeutung für die Menschen, die sie produzieren.

Das änderte sich, als der erste Rom das Institut betrat: Eduard Károly, ein damaliger politischer Aktivist in der Szene. Er war in dem Film vorgekommen als einer, der die verrückte Idee hatte, einen „Zigeunerverein“ zu gründen. Mit dieser Idee stand er damals noch ziemlich allein. Eduard Károly hatte von meinem Interesse gehört und wollte mich kennenlernen und einschätzen. Ich bestand den Test, woraufhin er mir die wohl wichtigste Adresse und Telefonnummer vermittelte, die es zu diesem Thema gab: jene von Mozes Heinschink, der im 3. Wiener Gemeindebezirk lebte. Heinschink war und ist in der Romabewegung vielfältig aktiv.8 Für mich war damals seine riesige Tonträgersammlung an Feldforschungsaufnahmen zur Romakultur, Sprache und Musik Material und Motivation, das Thema weiter zu verfolgen. Mozes Heinschink konnte vermitteln und erklären und war bereit, sein Wissen weiterzugeben. Er konnte mir sagen, wer die Sängerin in dem Dokumentarfilm war, nämlich Ruža Nikolić-Lakatos, wohnhaft im 22. Wiener Gemeindebezirk; er war der Taufpate aller ihrer fünf Kinder. Heinschink vermittelte mir Kontakte zu ihr und anderen RomamusikerInnen. So begann ich mit meiner Feldforschung.
Feldforschung ist die Methode, die im empirischen Bereich der Ethnomusikologie Anwendung findet. Man begibt sich „ins Feld“, also zu den Menschen und Ereignissen, die mit Musik in Verbindung stehen, nimmt teil und dokumentiert sie soweit möglich. Man bittet Menschen zum Gespräch, bittet sie, ihre Musik mitzuteilen, sie also tatsächlich mit einem „zu teilen“. Feldforschung ist das Erfahren von Zusammenhängen, in denen Musik eine Rolle spielt, die Erhebung der Voraussetzungen, Bedingungen und Bedeutungen der Musik selbst wie auch deren Bedeutung für die Menschen, die sie produzieren. Durch Ton- oder Videodokumentation werden diese Erfahrungen wiederholbar, belegbar und analysierbar gemacht. Mit dieser Methodik näherte ich mich auch der Romamusik an.

1 Ich begann 1987 am damaligen Institut für Volksmusikforschung der damaligen Musikhochschule (heute Universität für Musik und darstellende Kunst) zu arbeiten. 1990 reichte ich mein erstes Drittmittelforschungsprojekt zur traditionellen Musik burgenländischer KroatInnen und Roma ein und es sollten noch einige folgen. Damit wurde der Minderheitenschwerpunkt des Instituts begründet, der 2001 zur Umbenennung in Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie führte.
2 Mehr zum Minderheitenbegriff und zur ethnomusikologischen Minderheitenforschung generell siehe www.musicandminorities.org (Stand: 19.12.2023).
3 Ihr werdet uns nie verstehen. Dokumentarfilm von Bert Breit und Xaver Schwarzenberger, ORF 1988.
4 Stojka, Ceija: Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, Wien 1988.
5 Steinmetz, Selma: Österreichs Zigeuner im NS-Staat (= Monographien zur Zeitgeschichte) Wien u. a. 1966.
6 Thurner, Erika: Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich (= Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte, Bd. 2,) Wien/Salzburg 1983, S. 31-49.
7 Mayerhofer, Claudia: Dorfzigeuner. Kultur und Geschichte der Burgenland-Roma von der Ersten Republik bis zur Gegenwart, Wien 1987.
8 Hemetek, Ursula: „70 Jahre Mozes Heinschink. Grußadresse“, in: Romano Centro, Heft Nr. 65/66, Juni/September 2009, S. 8-11.

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