© JeKits-Stiftung

Krönig, Franz Kasper

Euphorievorsprung

Was passiert eigentlich in der JeKits-Akademie? Und wem soll sie nützen?

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2017 , musikschule )) DIREKT, Seite 08

Was die JeKits-Akademie nicht ist, lässt sich leicht angeben: Von Anfang an war klar, dass sie kein zusätzliches Weiterbildungsprogramm oder -format sein soll. Was sie stattdessen (geworden) ist, lässt sich aufgrund ihrer Komplexität und Prozesshaftigkeit weniger einfach sagen.

Ende Februar 2016 kamen 25 JeKits-Lehrkräfte aus Nordrhein-Westfalen für das erste von mittlerweile sieben Wochenenden in der Musikschule Bochum (seit 2017 in der Landesmusikakademie NRW in Heek) zusammen. Kaum waren alle ver­sammelt, überraschte Gastdozent Achim Tang die Gruppe mit einem improvisatorischen Praxisimpuls, der weder eingeführt noch erläutert wurde. Im Anschluss erlebten die TeilnehmerInnen eine theoretisierende, abstrakte Einführung meinerseits in das, was ich mir unter der JeKits-Akademie vorstellte. Ich hatte nicht nur den Namen „JeKits-Akademie“ sehr ernst genommen, nämlich akademisch verstanden, sondern dieses Verständnis zudem selbst „akademisch“ (oder anders ausgedrückt: unverständlich) formuliert.
Am Anfang standen also Irritationen, die weniger didaktisch geplant waren als vielmehr Ausdruck davon, dass hier etwas von Grund auf entstehen sollte, von dem niemand wusste oder wissen konnte, wie es geht und wohin es führt. Mehr und mehr bildete sich dann ein Ansatz heraus, der als für die JeKits-Akademie typisch gelten kann. Es handelt sich um eine Prozessform, die sich im Grunde selbstorganisiert ergeben hat und mittlerweile so bewährt ist, dass wir in der JeKits-Akademie sagen können, wie wir (meistens) vorgehen:

1. Am Anfang des Prozesses steht in der Regel eine Praxis. Das kann zum Beispiel eine Methode, ein Notenmaterial, eine Unterrichtssequenz oder eine Aufführung sein, solange sie für die Anwesenden als ­etwas Wirkliches, Konkretes, Wahrnehm­bares und Machbares im Raum steht. Oft sind es die Teilnehmenden, manchmal GastdozentInnen, die etwas vorführen, bei dem die Anwesenden in der Regel mitwirken, wobei jeweils Einzelne eine Beobachtungs- und Dokumentationsaufgabe übernehmen. Dirigierte Improvisation, Komposition, Songwriting, Tanz zu oder mit Musik (und anders herum), Arrangements vorhandener Stücke (z. B. aus dem JeKits-Materialpool) und vieles mehr wurde auf diese Weise im ersten Schritt ausprobiert. Wie im Folgenden deutlich werden soll, geht es in allen Fällen nicht darum, ob es sich um eine besonders „gute“ oder „progressive“, geschweige denn „innovative“ Praxis handelt, denn so gut wie jeder Praxiseinblick bietet Erkenntnis- und Entwicklungsmöglichkeiten.

2. Eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen „Stück Praxis“ wird erst dadurch möglich, dass dieses systematisch beobachtet und dokumentiert wird. Die JeKits-Akademie hat hierzu bestehende pädagogische Beobachtungsverfahren aufgegriffen, kritisch betrachtet, weiterentwickelt und für den Gegenstand des musikalischen Erlebens, Handelns und Kommunizierens in inklusiven Settings spezifiziert. Beobachtet werden dabei nicht primär Kinder und ihr Noch-nicht- oder Schon-Können, auch nicht die Qualität des Lehrerhandelns, sondern Settings, Methoden und Materialien vor allem im Hinblick darauf, welche Barrieren und welche Möglichkeiten sie für eine gemeinsame künstlerische Praxis und ästhetisches Erleben bieten.

3. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen und Dokumentationen wird zunächst versucht, zu einer Generalisierung des Praxisbeispiels zu kommen. Um was für eine Art bzw. einen Fall von was handelt es sich? Welche Zielsetzungen scheinen damit verbunden zu sein? Geht es beispielsweise um instrumentalpädagogisches Lernen, um musiktheoretische Wissensvermittlung, um Gruppenbildungsprozesse, um ästhetisches Erleben, um künstlerische Erfahrung? Wie schätzt man das vorliegende Material oder die betreffende Methode im Hinblick auf ihre Funktionalität für die zugeschriebene Zielsetzung ein? Welche anderen Ansätze gibt oder gäbe es alternativ dafür? Welche Prinzipien und Werte ge­raten in den Fokus, welche aus dem Blick?

4. Haben wir eine Vorstellung davon gewonnen, um welche Prinzipien und Werte es bei einem konkreten Praxisansatz geht und wie er dabei im Vergleich zu anderen Ansätzen verfährt, können die Einzelnen versuchen, sich diesen Ansatz anzueignen bzw. ihn weiterzuentwickeln. Dabei müssen die allgemeinen Prinzipien und Vorgehensweisen für die eigene Praxissituation und die eigene Person spezifiziert werden. Wie lässt sich der Ansatz so konkretisieren, dass er die Räumlichkeiten, die Gruppenstruktur, die Interessen und Fähigkeiten der oder des Dozierenden und nicht zuletzt die Identität und „Geschichte“ der jeweiligen JeKits-Gruppe und deren aktuelle Interessen berücksichtigt?

5. Auf diese Weise kam es zu etlichen Aneignungen und Weiterentwicklungen, die von den Teilnehmenden in der eigenen Praxis ausprobiert wurden. Aus instrumentalen Kompositionsansätzen wurden vokale, aus tänzerischen Methoden musikalische, aus Songwritingansätzen für Großgruppen solche für Kleingruppen etc. In vielen Fällen wurden die Prozesse und Ergebnisse in der folgenden JeKits-Akademiephase den KollegInnen auf Video vorgeführt oder als Praxis angeleitet.

6. Diese neuen Praxisbeispiele wurden in einigen Fällen wiederum systematisch beobachtet, dokumentiert, reflektiert und diskutiert. Wenn über zwanzig KollegInnen gemeinsam überlegen, was von diesem Praxisbeispiel ausgehend noch möglich wäre, um die Wahrscheinlichkeit gemeinsamen künstlerischen Handelns und ästhetischen Erlebens zu erhöhen, kommt in kurzer Zeit ein Reichtum an konkreten Ideen zusammen, deren Realisierbarkeit nicht nur diskutiert, sondern zudem ausprobiert werden kann.

Die Frage, was man eigentlich kann, wenn man an der JeKits-Akademie teilgenommen hat, ist ein ständiges Thema in der JeKits-Akademie, genau wie die Frage, wie dieses mutmaßliche Können der gesamten JeKits-Landschaft (den Kindern, den KollegInnen, den Musikschulen, den Lehrpersonen, den Eltern) zugute kommt.
Was die erste Frage betrifft, könnte man auf eine Reihe von Qualifizierungsleistungen verweisen, wie man es auch im Kontext klassischer Weiterbildungsformate tun würde. Beobachten, Dokumentieren und Moderieren wären Beispiele solcher Qualifikationen, die einen „technologischen“ Anteil aufweisen, sodass man konkrete „Skills“ nachweisen kann. Dazu gehören auch musikdidaktische Ansätze und Methoden, die gemeinsam ausprobiert wurden und den Teilnehmenden nun als Technik zur Verfügung stehen.
Der Erwerb konkreter Qualifikationen ist sicherlich nicht gering zu schätzen und zu einem gewissen Teil sogar unverzichtbar für die Arbeit der JeKits-Akademie. Noch wesentlicher scheint aber das zu sein, was wir einen „Reflexionsvorsprung“ genannt haben. Damit soll nicht gesagt sein, dass die TeilnehmerInnen an der Akademie reflektierter sind als andere, sondern dass sie die Gelegenheit hatten und nutzten, in einer erheblichen Intensität und Breite über drängende Fragen der eigenen JeKits-Praxis nachzudenken und diese Gedanken in ihre Praxis einzuführen.
Aus dieser Möglichkeit ergibt sich eine besondere Verantwortung. Die „programma­tische Mitverantwortung“ für JeKits, von der Peter Röbke in der vergangenen Ausgabe sprach, könnte möglicherweise für manche KollegInnen wie eine Überforderung, vielleicht wie eine Zumutung klingen. Die TeilnehmerInnen an der JeKits-Akademie suchen jedenfalls nach Möglichkeiten, nicht nur ihre eigene Praxis weiterzuentwickeln, sondern dies auch in ihrem Umfeld zu tun. Nicht, indem sie jemanden mit ihrem „Reflexionsvorsprung“ belehren, sondern eher, indem sie mit ihrem „Euphorievorsprung“ anstecken. Die Begeisterung kommt im Übrigen nicht daher, dass alle alles toll fänden und sich mit dem Ist-Zustand von JeKits in jeder Hinsicht identifizierten, sondern daher, dass Probleme im gemeinsamen Prozess zu spannenden Problemen wurden, auf deren Bearbeitung man Lust hat. Und dass in diesem Prozess deutlich wird, dass es nicht um den Ist-Zustand, sondern um die gemeinsam zu gestaltende Zukunft von JeKits geht.