Kruse-Weber, Silke (Hg.)

Exzellenz durch diffe­renzierten Umgang mit Fehlern

Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2012
erschienen in: üben & musizieren 2/2013 , Seite 52

Welche Rolle spielen Fehler in Lern- und Übeprozessen? Wie wird in der musikpädagogischen Praxis mit Fehlern umgegangen? Lässt sich zwischen „guten“ und „schlechten“ Fehlern unterscheiden? Ist das Nicht-Zulassen von Fehlern vielleicht der größte Fehler? Welche Kategorien von Fehlern gibt es? Was ist überhaupt ein Fehler?
Die Liste von Fragen, die auf einem Ende 2011 in Graz veranstalteten Symposium diskutiert wurden, ließe sich fortsetzen. Erstmals in der Geschichte der Instrumentalpädagogik wurde auf dieser Tagung der Versuch unternommen, die Dimension des Fehlers in allen Facetten auszuleuchten.
Angesichts der Tatsache, dass fast alle Beiträge über die Auseinandersetzung mit dem Fehlerphänomen zugleich auf fundamentale instrumentalpädagogische Fragestellungen zusteuern, ist die Behauptung wohl nicht verwegen, dass der Umgang mit Fehlern ein zentrales Herzstück instrumentalpädagogischer Arbeit darstellt. Daran gemessen ist es erstaunlich, dass diese ­Bedeutung erst mit diesem Tagungsband angemessen gewürdigt wird.
Gründe für die Aktualität des Fehlerphänomens liegen zweifellos in einer zunehmenden ­Akzeptanz konstruktivistischer Prämissen, die sich deutlich etwa in den Beiträgen von Silke Kruse-Weber und Maria Spychiger erkennen lässt. Die Einsicht in die autopoietische Struktur des Lernens hat dazu beigetragen, dass das alt-ehrwürdige Lehrinstrument der „Fehlerdiagnose“ (mitsamt der dazugehörigen Negativ-Konnotierung des Fehlers) in seiner Bedeutung für die Bahnung von Lernprozessen neu betrachtet wird. Im Sinne eines als „Ermöglichungsdidaktik“ bezeichneten Lehrverständnisses bildet nicht die Korrektur vermeintlich „objektiver“ Fehler, sondern die Unterstützung bei der Nutzung des in jedem Fehler schlummernden Lernpotenzials den Angelpunkt pädagogischer Intervention.
Der Schluss liegt nahe, dass Fehler nicht nur notwendig sind, um einen Zustand vermeintlicher Fehlerlosigkeit zu erreichen. Viel­mehr ist auch der Endzustand scheinbarer „Beherrschung“ von der Fähigkeit eines flexiblen Reagierens auf allgegenwärtige Unwägbarkeiten und damit von einer permanenten Integration kleiner und kleinster „Fehler“ in den Gesamtfluss des Spiels gekennzeichnet. Im Sinne der in der Sportwissenschaft entwickelten Theorie des „differenziellen Lernens“ betont Martin Widmaier daher, dass es beim instrumentalen Lernen keineswegs um die Überwindung von Fehlern gehen kann. Im Zentrum des Lernens muss vielmehr ein systematisches Kennenlernen und Auskosten unterschiedlichster, zum Teil auch unter Verdikt stehender Realisierungsalternativen stehen, aus denen sich im Verlauf des Lernprozesses dann eine Zone von als sinnvoll erlebten Möglichkeiten herauskristallisiert.
Dass das „Paktieren mit dem Fehler“ für die Herausbildung von Exzellenz im Bereich des Sports probat sein mag, scheint plausibel. Aber muss nicht, so fragt Peter Röbke, für ein künstlerisches Instrumentalspiel noch eine andere Dimension des Fehlers berücksichtigt werden? Sind nicht gerade spieltechnische ­Unebenheiten mitunter würdige Zeugen eines Musizierens, bei dem „ohne Netz“ aufs Ganze gegangen wird? Durch eine restlose Eliminierung oder Auflösung des Fehlers entstünde womöglich ein Hochglanz-Spiel, das niemanden mehr interessiert.
Der Band zeigt eindrücklich, dass die Herausbildung einer Fehlerkultur in ihrer Bedeutung für die Ausbildung künftiger Instrumentalpädagoginnen und -pädagogen zumindest in Ansätzen erkannt worden ist. Die Berichte über Fehlerkulturseminare an den Hochschulen in Frankfurt (Sibylle Cada) und Graz (Silke Kruse-Weber) stimmen hoffnungsvoll.
Noch aus einem anderen Grund verdient der Band Interesse – enthält er doch die letzte Publikation des im Juni 2012 verstorbenen Cellisten Gerhard Mantel. Dass ausgerechnet das Phänomen des „Fehlers“ am Ende eines lebenslangen pädagogischen Nachdenkens steht, ist bemerkenswert: Knüpft Mantel mit seinem Beitrag doch an Fragestellungen an, die bereits die Einleitung seines ersten Buchs Cellotechnik aus dem Jahr 1972 geprägt hatten. So bildet der Band, der in so mancher Hinsicht hoffnungsvoll in die Zukunft weist, zugleich den Schlussstein eines gewaltigen instrumentaldidaktischen Lebenswerks.
Wolfgang Lessing