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Heiss, Isabelle Sophie

Exzellenz durch Diversität

Gespräch mit Mutlu Ergün-Hamaz zur Rolle von ­Diversitätsbeauftragten an einer Kunsthochschule

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 50

Der promovierte Erziehungs- und Literatur­wissenschaftler Mutlu Ergün-Hamaz übernahm 2022 die neu eingerichtete Stelle als Diversitätsbeauftragter an der Universität der Künste (UdK) Berlin. Er trat mit über 20 Jahren Erfahrung in der macht- und rassismuskritischen Bildungsarbeit an, aber auch als Autor und Kunst­schaffender of Colour, der versucht, eine weiße Kunst- und Kulturland­schaft in Deutschland zu öffnen und zu ­verändern. Mutlu Ergün-Hamaz arbeitet seit April 2023 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deut­schen Institut für Menschenrechte und spricht im Interview auf der Grundlage seiner Erfahrungen über die Entwicklung von Kunst­- hoch­schulen zu diskriminierungs­sensibleren Orten.

Lieber Mutlu Ergün-Hamaz, die Einrichtung der Stelle einer oder eines Diversitätsbeauftragten war mit der Idee verbunden, die UdK zu einem strukturell diskriminierungssensibleren und inklusiveren Lernort zu machen. Wie bist du diese Aufgabe angegangen?
Da gab es hauptsächlich drei Ebenen. Zum einen habe ich verschiedene Workshops angeboten unter dem Titel „Raising Awareness – Bewusstsein stärken“: mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten wie „Rassismus“ oder „Kritische Maskulinität“, aber auch „Gendervielfalt & Non-Binarität“. Der Workshop zum letztgenannten Schwerpunkt wurde in Zusammenarbeit mit der Frauen*- und Gleichstellungsbeauftragten1 durchgeführt. In den Workshops ging es darum, einen Einstieg in die doch sehr umfassenden Themen zu finden. Dabei waren die „Raising Awareness“-Workshops so konzipiert, dass sie bei denjenigen mehr themenbezogenes Bewusstsein schaffen, die von Diskriminierung strukturelle Vorteile haben. So ging es beim Thema „Rassismus“ darum, mehr Bewusstsein bei Weißen zu schaffen, beim Thema „Kritische Männlichkeit“ mehr Bewusstsein bei Cis-Männern2 und beim Thema „Gendervielfalt und Non-Binarität“3 mehr Bewusstsein bei Cis-Gender-Personen. Darüber hinaus organisierte ich Empowerment-Workshops für Personen mit Rassismuserfahrungen.
Zum anderen habe ich viele Einzel- und Gruppenberatungsgespräche geführt und versucht, Personen, Studierende, Mitarbeitende über ihre Pflichten und Rechte aufzuklären und sie bei ihren Fragen und Erfahrungen an der Hochschule zu unterstützen.
Und schließlich war auch der strukturelle Ansatz sehr wichtig für mich. Ich habe z. B. Vorschläge gemacht, wie die Curricula in den einzelnen Fächern machtkritisch überarbeitet werden könnten. Für diesen Prozess bräuchte es jedoch für jeden Studiengang eine Arbeitsgruppe, zusammengesetzt aus Lehrenden, Mitarbeitenden und Studierenden, am besten mit relevanten Diskriminierungserfahrungen und diskriminierungskritischer Expertise, die die Lehrpläne untersuchen und diverse Perspektiven und Themen bei der Ausarbeitung der Studieninhalte ergänzen, die sonst häufig marginalisiert sind.

Was brauchen Diversitätsbeauftragte in ihrer Arbeit und inwiefern sind sie auf die Mitarbeit der Universitätsangehörigen angewiesen?
Diversitätsbeauftragte brauchen viel Geduld und Durchhaltevermögen. Forschungsergebnisse aus England zeigen,4 dass Personen in solchen Berufen doppelt oder dreimal so häufig von Burnout betroffen sind, sprich: viel Selbstfürsorge ist wichtig in diesem Beruf. Mir hat es auch geholfen, meine Zeit an der UdK als eine wichtige Lernerfahrung zu sehen, Erfolge zu feiern und „Misserfolge“ in Möglichkeiten umzuwandeln. Ich würde zudem empfehlen, künftig noch mehr die strukturelle Arbeit zu fokussieren, da es in dem Bereich viel Bereitschaft gibt, Dinge anzugehen.
Aber: Ich habe immer wieder gesagt, dass ich für eine Universität mit etwa 5000 Studierenden und 3000 Mitarbeitenden nicht allein verantwortlich in Fragen zu Antidiskriminierung und Diversität bin, sondern alle verantwortlich dafür sind und ich gerne jede Person nach meinen Möglichkeiten begleite, die meine Unterstützung braucht. Hin und wieder hatte ich den Eindruck, dass angenommen wurde, ich sei die Feuerwehr und dass ich überall dorthin gehen soll, wo es mal brennt. Aber eigentlich gibt es eine immer präsente Glut von Diskriminierung, die vielleicht mal offen an der einen oder anderen Stelle ausbricht. Da hilft dann auch keine Feuerwehr.
Das Thema ist also nicht abgehakt, wenn es Diskriminierungbeauftragte gibt. Kunsthochschulen sollten sich fragen, ob sie zukunftsfähig, demokratisch und vielfältig sein wollen oder ob sie lieber weiterhin ein künstlerisches Studium für eine privilegierte Elite zugänglich machen. Wenn ich das Klassenzimmer meines Kindes, in dem gut die Hälfte der Kinder BIPOC5 sind, mit Seminaren an Kunsthochschulen vergleiche, nehme ich ein großes Ungleichgewicht wahr. Klar gibt es Unterschiede an den Fakultäten, und mir ist bewusst, dass zum Beispiel gerade in der Musik auch viele internationale Studierende aus verschiedensten asiatischen Ländern studieren. Aber das heißt noch lange nicht, dass es sich um einen diskriminierungsfreien Raum handelt.
In meiner Doktorarbeit, in der es um Rassi­fizierung und Empowerment ging, habe ich häufig die Arbeit von Norbert Elias, einem deutsch-jüdischen Soziologen zitiert. Etwas vereinfacht ausgedrückt, erforschte Elias die historische Entwicklung von Tischmanieren und wie sie durch unsere Sozialisation zu unserer zweiten Natur werden. Die wenigsten von uns erinnern sich daran, wie wir die körperlichen Automatismen gelernt haben, die nun dazu beitragen, wie wir den Tisch decken und uns am Esstisch verhalten. Ähnlich lässt sich dies auch auf Diskriminierung übertragen. Die wenigsten von uns erinnern sich daran, wie sie schon als Kinder gelernt haben, bestimmte gesellschaftliche Grenzen zu sehen und gegebenenfalls auch aufrechtzuerhalten. Daher habe ich den Mitarbeitenden (aber auch den Studierenden etc.) immer den Rat gegeben, sich eine Workshopform zu suchen, die ihnen hilft, sich persönlich und biografisch mit diesen Fragen zu beschäftigen. Das ist aber auch ein langer und zäher Prozess, der nicht sofort mit Erfolg gekrönt sein muss. Wenn dies jedoch gelingt, bin ich tief von dessen positiven Wirkung überzeugt, da wir auf diese Weise nicht den Narrativen, sondern einander viel mehr als Menschen begegnen können.

Mit welchen Herausforderungen wurdest du in deinem Amt konfrontiert? Und welche positiven Überraschungen gab es?
Meine Erfahrungen waren, wie sicher in jedem Beruf, ganz unterschiedlich – sowohl positiv als auch weniger positiv. Einerseits war die Herausforderung, die vielen Erwartungen zu managen, die an mich von verschiedenen Seiten gestellt wurden. Der Bedarf war unglaublich groß und es gab unglaublich viel zu tun auf verschiedenen Ebenen. Dabei bin ich unterschiedlichsten Widerständen begegnet, aber ich habe auch sehr viel guten Willen und die Bereitschaft, Dinge anzugehen und verändern zu wollen, gesehen.
Andererseits können Universitäten unglaublich zäh und langsam in ihrem strukturellen Wandel sein, weil es sich um enorm große ­Institutionen handelt, die nach bestimmten Werten und Ideen gewachsen sind, über Jahrzehnte, manchmal auch Jahrhunderte. Hinzu kommt, dass sich dort häufig weiße (heterosexuelle) Cis-Männer*,6 meist aus der gehobenen Mittelschicht, in Führungspositionen finden. Sind diese Personen zum Dominieren sozialisiert, kann es eine Universität in manchen Fällen ein wenig beratungsresistent machen.
Freudig überrascht war ich vor allem bei der tollen Zusammenarbeit mit der damaligen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten. Sie war eine tolle Verbündete in vielen Kämpfen und ich habe von anderen Institutionen gehört, dass dies nicht immer der Fall sein muss, da manchmal Kritische Diversität und Rassismuskritik in Konkurrenz zu Feminismus konstruiert wird.

Einst wurde viel über Heterogenität oder Inklusion gesprochen, dann von Diversität. Inzwischen wird immer häufiger von kritischer Diversität gesprochen. Wie denkst du über diese Begriffe?
Ich kann gut mit jedem Begriff leben, der in meiner Arbeit hilfreich ist, also dazu beiträgt, dass Personen oder Organisationen sich transformieren, und der nicht Machtstrukturen auf eine dis-empowernde Art und Weise reproduziert. Ob dieser Begriff nun „kritische Diversität“ oder sonst wie heißt, ist für mich eigentlich zweitrangig. In meiner Arbeit ging es in erster Linie um Empowerment, was (Selbst-)Ermächtigung bedeutet. Wichtig war mir dabei allerdings, dass wir von einem neo-liberalen Verständnis von Empowerment wegkommen und stattdessen Einzelne stärken sowie gleichzeitig Strukturen transformieren, in denen Menschen machtkritisch und diskriminierungssensibel mitgestalten und mitsprechen können.

Wie sähe denn in deinen Augen eine strukturell diskriminierungssensible und inklusive Kunstuniversität bzw. Musikhochschule aus?
Wenn ich ehrlich bin, sieht in meiner Vision ein diskriminierungssensibler und inklusiver Lernort ganz anders aus, als er zurzeit vorzufinden ist. Dies wäre ein Ort, wo lernen voneinander, füreinander und miteinander möglich wäre, wo ganz viele verschiedene Arten von Wissen, Wissenschaft, Kunst und Kultur denkbar sind, die nicht von einem engen westlichen Kanon und Verständnis begrenzt sind. In meiner Arbeit hatte ich oft den Eindruck, dass Exzellenz und Diversität in Widerspruch zueinander gesehen werden. Aber in meinem Verständnis erreicht ein Lernort Exzellenz durch (kritische) Diversität.

Wie also können Kunsthochschulen strukturell diskriminierungssensibler und inklusiver werden?
Im Rahmen meiner Arbeit an der UdK habe ich sieben Vorschläge gemacht:
1. Implementieren – also das Implementieren der Critical Diversity Policy durch ein Critical Diversity Steering Committee (z. B. Präsi­dium, Diversitätsbeauftragte, Frauen*- und Gleichstellungsbeauftragte) und einem Critical Diversity Lenkungsgremium.
2. Adressieren – wo und wie werden potenzielle Mitarbeitende, Lehrende und Studierende angesprochen? Wo und wie könnten sie gezielter angesprochen werden, um die Unterrepräsentation marginalisierter Gruppen zu erhöhen?
3. Finanzieren – das Implementieren der Critical Diversity Policy braucht finanzielle Ressourcen.
4. Transformieren – z. B. durch Workshops, Schulungen und andere Reflexionsräume, aber auch durch Personen, die in den Strukturen Verantwortung für die Umsetzung der Critical Diversity Policy übernehmen.
5. Dekolonisieren – die Dekolonisierung des Curriculums bedeutet die Schaffung von Räumen und Ressourcen für einen Dialog zwischen allen Mitgliedern der Universität darüber, wie man sich das Vorkommen bzw. die Berücksichtigung aller Kulturen und Wissenssysteme im Curriculum vorstellen kann, und zwar im Hinblick darauf, was gelehrt wird und wie es die Welt gestaltet.
6. Partizipieren – es braucht die Stimmen von BIPOC-Studierenden und auch anderer diskriminierter Gruppen und deren studentische Interessenvertretungen, die sich an dem Prozess der intersektionalen Öffnung beteiligen.
7. Erweitern – es braucht mehr personelle Ressourcen, um Kunst- und Musikhochschulen diskriminierungssensibler und inklusiver zu machen.
Damit Kunsthochschulen strukturell diskriminierungssensibler und inklusiver werden, braucht es zunächst also drei Dinge: Ressourcen, Zeit und Engagement. Es braucht darüber hinaus aber auch Repräsentanz von strukturell benachteiligten Gruppen oder zumindest Critical Diversity Champions7 in den Jurys und Einstellungsgremien, die sich dafür einsetzen, dass Potenzial, Talent, Wissen und Kompetenz von strukturell benachteiligten Personen wahrgenommen wird.
Und natürlich hilft es auch, Daten zu haben. Ein Monitoring ist ein guter und erster Schritt zu schauen, wo es Bedarf für Förderung und Weiterbildung gibt. Ich schlage aber auch vor, Lenkungsgremien zu gründen, um die Umsetzung und Fortschritte der auf dieser Grundlage mit Blick auf einen machtkritischen, strukturellen Wandel initiierten Projekte zu verfolgen. Das bedeutet nicht, dass diese Projekte dann automatisch von Erfolg gekrönt sein werden, aber Trail und Error gehören in diesem Prozess einfach dazu.
Schließlich bin ich persönlich der Meinung, dass eine Quote eine kostengünstige Möglichkeit ist, strukturellen Wandel in die Wege zu leiten. Aber dazu sind die Widerstände politisch noch zu groß und auch die rechtlichen Grundlagen noch nicht bereit. Frauen*, BIPOC, Personen, die be-hindert werden, LGBTQIA+8 etc. sind immer noch viel zu unterrepräsentiert, sowohl unter den Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden, aber insbesondere unter den EntscheidungsträgerInnen an Kunsthochschulen.

Was würdest du dir im Diskurs in den Küns­ten – gerade im Bereich Musik – zum Thema Rassismus oder kritische Diversität wünschen?
Ich würde mir mehr Bewusstsein und somit auch mehr Handlungsfähigkeit wünschen. Das was an Kunsthochschulen als Kunst oder Musik verstanden wird, ist nicht ahistorisch. Es geht darum, kritisch zu hinterfragen:9 Nach welchen Regeln funktionierte und funktioniert eigentlich unser Verständnis von dem, was wir „Musik“ oder „Kunst“ nennen? Was wurde alles ausgeschlossen und aussortiert, um unser heutiges Verständnis von Kunst und Musik im Westen zu definieren? Denn Rassismus und Weiß-Sein sind unmittelbar verbunden mit den wissenschaftlichen, ästhetischen und musikalischen Standards, nach denen Studium und Lehre an Kunsthochschulen ihre Wirkung entfalten.

1 Das Gendersternchen steht für den Konstruktions­charakter von Geschlecht. Der Begriff Frauen* bezieht sich auf alle Personen, die sich unter der Bezeichnung Frau definieren, definiert werden und/oder sich sichtbar gemacht sehen.
2 Mit Cis werden Personen bezeichnet, die aufgrund ihrer äußeren Merkmale so gelesen werden, wie es ihrer Geschlechtsidentität entspricht.
3 Als non-binär werden die Geschlechtsidentitäten von Menschen bezeichnet, die sich nicht ausschließlich weiblich oder männlich identifizieren. Diese sind z. B. genderfluid (wechselnde Geschlechtsidentitäten), pangender (alle Geschlechter einschließend), bigender (Verbindung von zwei Geschlechtern), agender (ohne Geschlecht).
4 Pemberton, Andrea/Kisamore, Jennifer: „Assessing burnout in diversity and inclusion professionals“, in: Equality, Diversity and Inclusion, Vol. 42, No. 1, 2023, S. 38-52, https://doi.org/10.1108/EDI-12-2020-0360 (Stand: 22.9.2023); „Why is Burnout So Common in ­Diversity and Inclusion Practitioners?“, Podcast, 20.5.2022, https://inclusioninprogress.com/podcasts/why-is-burnout-so-common-in-diversity-and-inclusion-practitioners (Stand: 22.9.2023).
5 Die Abkürzung BIPOC steht für Schwarze, Indigene und People of Color.
6 s. Anm. 2. In diesem Fall handelt es sich also um als Männer gelesene Personen, die sich als Männer verstehen.
7 Die Auszeichnung „Diversity Champions“ können Menschen einer Organisation für ihr auffallendes Engagement im Bereich Weiterentwicklung der Organisation und Diversity erhalten.
8 LGBTQIA+ ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer, Intersex und Asexuel und steht für sexuelle Orientierungen und Formen von Identitäten.
9 Ein von Mutlu Ergün-Hamaz mitinitiiertes Symposium mit dem Titel „University of Unlearning“ an der UdK Berlin ist derzeit in Planung. Das Symposium will sich auf die besonderen Herausforderungen konzentrieren, mit denen sich Kunsthochschulen aufgrund ihrer spezifischen Traditionen konfrontiert sehen. Dazu plant eine Gruppe aus Studierenden und Mitarbeitenden einen Austausch, um ein diskriminierungskritisches Miteinander zu fördern. Als musikalischer Beirat der AG sind Christine Hoppe (Musikwissenschaft), Johann Honnens und Isabelle Sophie Heiss (beide Musikpädagogik) im Planungsteam aktiv. Mehr Informationen unter: https://criticaldiversity.udk-berlin.de/unlearning (Stand: 15.1.2024).

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