Gaul, Magnus / Barbara Ströhl / Bernd Ludwig

Eye Tracking

Eine neue Technologie analysiert die Augenbewegungen beim Prima-Vista-Spiel

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2017 , Seite 42

Vom-Blatt-Spiel bzw. Prima-Vista-Spiel gehört zu den elementaren Techniken in der Beherrschung eines Instruments, die im Unterricht individuell gefördert werden.1 Der folgende Beitrag stellt ein computerunterstütztes Verfahren vor und möchte die Möglichkeiten neuer technologischer Hilfen zur Analyse des Blickverhaltens in die Diskussion einbringen.

Eye-Tracking-Studien, das heißt bildgebende Forschungsverfahren, die das Blickverhalten von InstrumentalistInnen beim Prima-­Vista-Spiel computerunterstützt analysieren, sind für Solisten in der Regel noch unbeschrittenes Terrain. Zum einen ist der künstlerische Vortrag in einer Vorspiel- oder Konzertsituation für sie ein „unantastbares“ Ergebnis, das aufgrund der inneren Spannung und der positiven Aufgeladenheit des künstlerischen Gestaltungswillens eigenen Gesetz­mäßigkeiten unterliegt. Zum anderen werden Künstler in Eye-Tracking-Studien mit einer scheinbar „konzertsaalfernen“ Laborsitua­tion konfrontiert.
Auf die finale künstlerische Interpretation eines Werks werden die Fähigkeiten des Vom-Blatt-Spiels nur zweitrangig Einfluss haben, jedoch sind diese Fähigkeiten zweifelsohne hilfreich zur Erarbeitung breiter Repertoirekenntnisse und der dazu benötigten Techniken. Umso förderlicher wird es für Instrumen­talistInnen sein, an ihren Fähigkeiten in der Erfassung des Notenbildes permanent zu arbeiten, wozu seit geraumer Zeit ein technisches Analyseverfahren des Blickverhaltens namens „Eye Tracking“ zur Verfügung steht. Eyetracker nehmen eine Aufzeichnung des Blickverhaltens eines Probanden vor und liefern Daten zur weiteren Analyse der Blickbewegungen.
Eye-Tracking-Analysen kennt man inzwischen aus vielen Bereichen des täglichen Lebens.2 Sie werden in der Medizin, der Psychologie, der Informatik, der Leseforschung, aber auch zu Markt- und Medienforschungszwecken gezielt eingesetzt, um das Blickverhalten von Personen zu erfassen und objektivieren zu können. Gerade in der Unterhaltungstechnologie, der Entwicklung von Videospielen oder Spielekonsolen haben sie in jüngster Vergangenheit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Aus dem Bereich musikbezogener Expertiseforschung sind Studien mit dieser Technologie weniger bekannt, obwohl sie bereits seit geraumer Zeit wichtige individuelle Bewertungskriterien bereitstellen.3

Was geschieht beim Eye Tracking?

Überall dort, wo Personen ihren Blick auf etwas fixieren, so z. B. auch beim Lesen einer Stimme oder Partitur, lassen sich individuelle Unterschiede ausmachen, wie genau und wie lange (Noten-)Zeichen und Symbole betrachtet und in welcher Reihenfolge sie decodiert werden, das heißt wie lange der Blick mit einer Information beschäftigt ist, um sie im Anschluss im Gehirn zu verarbeiten und motorisch umzusetzen. Eye Tracking (= das Verfolgen des Blicks) bezeichnet das computerunterstützte Aufzeichnen von Augenbewegungen einer Person und die wissenschaft­liche Analyse dieser komplexen Blickdaten.4 Denn in der Regel besteht der individuelle Zugang zum Notenlesen aus längeren Fixationen, den „Haltepunkten“ im Blickverhalten, aus Sakkaden, den schnellen Augen­be­we­gungen, und Regressionen, den natürlichen Korrekturmechanismen. Nach der Eye-Mind-Hypothese5 stehen Fixationen in direktem Zusammenhang mit kognitiven Prozessen und liefern somit wertvolle Hinweise über die Aufmerksamkeitsverteilung während des Vom-Blatt-Spiels.

1 Andrew J. Waters/Geoffrey Underwood/John M. Findlay: „Studying expertise in music-reading: Use of pattern-matching paradigm“, in: Perception & Psychophysics, 59(4)/1997, S. 477-488; Andreas C. Lehmann/Reinhard Kopiez: „Sight-reading“, in: Susan Hallam/Richard Parncutt (Hg.): Handbook of music psychology, Oxford 2009, S. 344-351.
2 Mike Horsley/Matt Eliot/Bruce Allen Knight/Ronan Reilly: Current Trends in Eye Tracking Research, Heidelberg 2014.
3 Andrew J. Waters/Ellen Townsend/Geoffrey Underwood: „Expertise in musical sight reading: A study of pianists“, in: British Journal of Psychology, 89/1998, S. 123-149.
4 ebd.
5 Marcel Adam Just/Patricia A. Carpenter: „A Theory of Reading: From Eye Fixations to Comprehension“, in: Psychological Review, 87, 4, 1980, S. 329-354.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2017.