Lessing, Kolja

Farben und Bewegung

Zum 90. Geburtstag der belgischen Komponistin Jacqueline Fontyn

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2020 , Seite 47

Seit nunmehr sieben Jahrzehnten geht Jacqueline Fontyn, Grande Dame der belgischen Musik, mit erstaunlicher Kontinuität ihren kompositorischen Weg – vielfach ausgezeichnet, weltweit aufgeführt und doch in Unabhängigkeit von all den ästhetischen Dogmen, die die Musik der Jahrzehnte nach 1950 so wesentlich bestimmt haben.
Belgische Musik? Zunächst scheint Belgien im 20. Jahrhundert ein Land der stilbildenden Maler und Designer zu sein, vom Universalgenie Henry van de Velde bis zu den beiden überragenden Exponenten des Surrealismus René Magritte und Paul Delvaux. Die Wahrnehmung der belgischen Musik wird indessen durch ihre enge Verbindung zur französischen Musikszene gleichsam verdeckt. Auch Jacqueline Fontyns alle Gattungen umfassendes Œuvre lässt in seiner spezifischen Farbigkeit und Eleganz starke Prägung durch die Klangwelten eines Maurice Ravel, Albert Roussel und Henri Dutilleux erkennen.
Als Kind eines großbürgerlichen frankofonen Elternhauses im flämischen Antwerpen erfuhr Jacqueline Fontyn (*27.12.1930) schon früh eine Förderung ihrer musikalischen Begabung in unbeschwerter Atmosphäre. Die Besetzung Belgiens durch die Nationalsozialisten brachte jedoch gravierende Erschütterungen mit sich: den Selbstmord ihres innig verehrten und geliebten Klavierlehrers Ignace Bolotine 1943 und die Ermordung ihrer Großeltern mütterlicherseits im Konzentra­tionslager Auschwitz. Auch der frühe Tod ihrer Lieblingsschwester Denise 1941 und ihrer Mutter 1947 zählen zu den traumatischen Jugenderfahrungen, denen Jacqueline Fontyn ein musikalisches Lebenswerk voller Heiterkeit und Humor, voller Farben und geradezu überschäumender Bewegungsenergie entgegengesetzt hat. „Ich fühle mich mehr zu dem hingezogen, was Licht und Freude ausstrahlt, und zwar in allen Künsten!“ – so definierte Jacqueline Fontyn ihr künstlerisches Credo 2011 im Gespräch mit dem bel­gischen Musikkritiker Bruno Peeters.1
Doch ungeachtet aller Schicksalsschläge konnte sie sich ihren bereits in jungen Jahren gereiften Berufswunsch als Komponistin konsequent erfüllen. Statt eines Studiums bei der damals schon legendären Nadia Bou­langer kam sie 1954 nach Paris zu Max Deutsch, einem Schüler Schönbergs, der sie auf offenbar unorthodoxe Weise in dessen Methode des Komponierens mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen einführte. Es muss wie eine Befreiung aus der Welt des Neoklassizismus für Jacqueline Fontyn gewesen sein: Max Deutsch erschloss der jungen Komponistin neue Ausdrucksmöglichkeiten, die sich erstmals in ihrem fulminanten Capriccio für Klavier2 aus dem Jahr 1954 spiegeln.
Mit stetem Selbstverständnis und -bewusstsein verfolgte Jacqueline Fontyn von Anfang an ihre Laufbahn als Komponistin, die ihr weltweit zahlreiche Aufträge auch für Orchester – ihrem Lieblingsinstrument! – einbrachte, zudem Einladungen zu Meisterklassen und Vorträgen – und eine Professur für Komposition am Königlichen Konservatorium in Brüssel. Ihr Komponieren vollzog sich ab den 1970er Jahren in zunehmender Loslösung von dodekafonen Gestaltungsprinzipien, an deren Stelle frei gewählte Modi bzw. Tonsysteme traten, unter Einbeziehung aleatorischer Techniken und gelegentlicher spielerischer Klangverfremdungen. Zu den Höhepunkten ihrer Laufbahn zählt gewiss die Auszeichnung ihres Orchesterwerks Quatre Sites (1977) mit dem Prix Musical International Arthur Honegger 1988 – eine Auszeichnung, die angesichts der Konkurrenz nicht weniger prominenter Komponistenkollegen umso höher wiegt.
Im Gegensatz zu den meisten Komponisten und Komponistinnen ihrer Generation hat Jacqueline Fontyn auf Werke politisch-gesellschaftskritischen Inhalts weitgehend verzichtet. Rückblickend können allerdings sowohl ihr Cellokonzert Colinda (1991/2010) als auch ihre sinfonische Suite Goeie Hoop (1998), die vom belgischen Pianisten und Dirigenten Robert Groslot für das Philharmonische Jugendorchester von Flandern initiiert wurde, als musikalische Reaktionen auf die tragischen politischen Ereignisse in Rumänien 1989 bzw. auf den jahrzehntelangen Befreiungskampf in Südafrika verstanden werden. Zudem wird man kaum autobiografische Spuren in ihrer Musik finden. Und doch findet sich auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme: die der Erinnerung an den 100. Geburtstag ihrer früh verstorbenen Mutter 1997 gewidmete A-cappella-Vertonung von Avraham Ben Yitzhaks Ich kannte meine Seele nicht3 – der einzige Rückgriff auf einen großen jüdischen Dichter in Jacqueline Fontyns reichem vokalen Œuvre.
Im Bereich der Instrumentalmusik hat sich Jacqueline Fontyn immer wieder der „schönen Herausforderung [gestellt], sich der Aufgabe zu unterziehen, mehr oder weniger leicht zu spielende Stücke zu schreiben, ohne deshalb Zugeständnisse zu machen in Bezug auf unsere aktuelle Ausdrucksweise. Außerdem ist auch der Gedanke anregend, dass die Jugend die Musik unserer Zeit von innen her kennenlernt.“4 Da Jacqueline Fontyn zudem stets den Kontakt zum imaginären Rezipienten ihrer Musik, den sie sich vorurteilsfrei und entdeckungsfreudig wünscht, gesucht hat, dürfte es ihr nicht allzu schwer gefallen sein, ihre fantasievollen farbigen Klangwelten auch innerhalb eines spieltechnisch moderaten Rahmens zu entwerfen.
Ein frühes exquisites Beispiel dieser Kunst, ureigene musikalische Visionen in äußerster Konzentration der Form, zugleich in erstaunlicher Einfachheit der instrumentalen Anforderungen abwechslungsreich zu gestalten, liefern die 1964 entstandenen Mosaici, acht Miniaturen für Klavier. In faszinierender Mischung aus lyrischen und impulsiven Stücken, die ungeachtet ihrer zwölftönigen Konzeption bisweilen sogar jazzige Spiellaune offenbaren, entwickelt sich dieser Zyklus, der ebenso wie die sechs kurzen Stücke der Bulles (Bläschen) aus dem Jahr 1980 die besondere pianistische Affinität der Komponistin spiegelt. Alle Register der Klaviatur werden entweder in langsam sich aufbauenden, atmosphärisch suggestiven Klanggebilden von großem Resonanzreichtum oder in vorwärtsdrängenden quirligen Minimalaktionen durchmessen.
Seit den Bulles, die 1980 ebenso wie Le Gong speziell für junge Pianistinnen und Pianisten geschrieben wurden, integriert Jacqueline Fontyn oft aleatorische Momente in ihre Klaviermusik: schnelle Clustersequenzen und freies, unregelmäßig repetierendes Spiel auf vorgegebenen Tönen sowohl auf den Tasten als auch im Innern des Flügels. Poesie und überschäumende Energie stellen die Pole dieser immer idiomatischen, undogmatischen Musik dar.
Nicht minder erfolgreich hat sich Jacqueline Fontyn stets aufs Neue pädagogisch inspirierter Musik für Streicher gewidmet. Aus jüngster Zeit (2011) stammt das kurze Kalavinka speziell für Kinderstreichorchester – entstanden auf Anregung des in Sachen Neue Musik leidenschaftlich engagierten Chemnitzer Violinpädagogen Andreas Winkler. Mit dem Zyklus La Devinière aus den Jahren 1986 bis 1988 hat Jacqueline Fontyn ein mittlerweile fast schon zum Klassiker avanciertes, hinreißendes Kaleidoskop von elf Miniaturen für Violine mit Klavierbegleitung geschaffen, die für Kinder und Jugendliche einen oft humoristisch gefärbten, vergnüglichen Zugang zu verschiedenen Ausdrucksformen und Spieltechniken Neuer Musik eröffnen.
Im ersten Stück Facile? lebt die wesentlich von rhythmisch gleichen Terzschritten geprägte schlichte Violinstimme von der Verbindung zum raumgreifenden, resonanzreichen Klavierpart mit seinen vielen rhythmischen Minimalimpulsen. Rhythmische Stabilität des Geigers, genaues Aushören der sich im Duospiel ergebenden harmonischen Konstellationen (nicht selten sind es tonale oder bitonale Akkorde), Sensibilisierung für die jeweiligen geigerischen Register in Bezug auf den Klavierpart: All diese eminent wichtigen Qualitäten werden in dieser ersten Miniatur gleichsam als stilistische Brücke von Brahms (vgl. Intermezzo op. 119 Nr. 1 für Klavier) zur Neuen Musik thematisiert.
Im Verlauf des Zyklus finden sich Stücke eher avantgardistischer Klanggestaltung: Thriller (Nr. 5) mit seinen stets changierenden Klangflächen und Rabbia! (Nr. 6) mit verschiedensten Varianten perkussiven Violinspiels; ebenso eine ausgesprochen witzige Annäherung an Mozart in Flageoletts und Vogelstimmenimitaten – Lieber Wolfgang! (Nr. 9) – und eine minimalistisch augenzwinkernde Hommage an ihren belgischen Komponistenkollegen Karel Goeyvaerts – Litania brevis (Nr. 10). Rückweg (Nr. 11) beschließt den Zyklus in einer krebsgängigen Rückspiegelung von Nr. 1, jetzt jedoch reich an rhythmischen Varianten und kleinsten Verzierungen der ursprünglich in archaischer Viertelprogression geführten Violinstimme.
Neben diesen herausragenden Beiträgen zum pädagogischen Repertoire für Klavier bzw. Streichinstrumente steht Créneaux (Zinnen) als bedeutendes sinfonisches Werk, das 1982 für ein niederländisches Jugendorchester entstand und ein Jahr später von der Komponistin selbst für Blasorchester brillant bearbeitet wurde. Wieder ist es eine Folge von Miniaturen mit illustrativen, suggestiven Titeln, die fernab aller ideologischen oder analytischen Fragen einen primär emotionalen Zugang zu den atmosphärisch stark kon­t­rastierenden Einzelsätzen ermöglichen. Besonders faszinierend ist der zweite Satz „Contemplation“ in seiner Konzentration auf langsam changierende Harmonien im Grenzbereich zwischen Konsonanz und Dissonanz. Einmal mehr offenbart sich hier Jacqueline Fontyns Affinität zu einer spezifisch französisch geprägten musikalischen Tradition, die von Ravel und Roussel bis in die Gegenwart führt.
So steht Jacqueline Fontyns Werk in völliger Autonomie jenseits aller gesellschaftlichen Turbulenzen, jenseits aller ästhetischen Dogmen und losgelöst von allen individuellen Erfahrungen und Erschütterungen, die das Leben der weltweit gereisten, polyglotten Komponistin mit sich brachte. Im Entwickeln ihrer eigenen Klangwelt und in Hinblick auf deren Interpretation ist Jacqueline Fontyn akribische Perfektionistin. Sie ist noch heute in hohem Alter einem strengen Arbeitsritual verpflichtet im Bestreben, Musik von nie versagender, vielfältig differenzierter Bewegungslust und Klangsinnlichkeit zu schaffen.

1 vgl. Christa Brüstle (Hg.): Jacqueline Fontyn – nulla dies sine nota. Autobiographie, Gespräche, Werke, Wien 2013, S. 60. Dieser weitgehend autobiografisch geprägte Band stellt – nach der bereits 1991 von Bettina Brand vorgelegten ersten selbstständigen Buchveröffentlichung über Jacqueline Fontyn – das bislang umfangreichste Kompendium über die Komponistin dar. ­Indessen bleiben darin manch wichtige Aspekte von Leben und Werk Fontyns unberührt, so z. B. ihre jüdische Herkunft und Familiengeschichte mütterlicherseits – mithin die Erfahrung des Holocaust, die Vereinbarkeit von ihren weltweit gespannten Aktivitäten als Kompo­nistin mit ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter zweier Kinder nach dem frühen Tod ihres Mannes 1976. Ebenso bleiben ästhetische Fragen in Hinblick sowohl auf ihre eigenen Positionen innerhalb der musikalischen Entwicklungen seit 1950 als auch auf die Interpretation ihrer Werke ausgespart. Angesichts der Bedeutung der Komponistin wären detaillierte Studien äußerst wünschenswert.
2 Capriccio für Klavier ist wie alle anderen Werke Fontyns im Musikverlag Musica Mundana (München) erschienen.
3 Der Verfasser machte die Komponistin auf diesen damals noch wenig bekannten hebräischen Dichter aufmerksam und lieferte ihr die Textvorlage für dieses Vokalwerk.
4 Brüstle, S. 82 f.

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