Wersin, Michael

Faszination Klassik

Eine kleine Musikgeschichte

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Reclam, Stuttgart 2008
erschienen in: üben & musizieren 1/2009 , Seite 57

In elf Essays durchstreift Michael Wersin, Sänger und Musikwissenschaftler, die Musikgeschichte unter dem etwas plakativen Titel Faszination Klassik. Nicht explizit benannt ist die Zielgruppe des Buchs. Sicher ist an Heranwachsende gedacht, auch an Laien bzw. LeserInnen, die die Klassik für sich entdecken wollen oder bereits erste Bande mit ihr geknüpft haben. Leute vom Fach werden hier kaum Neues finden, auch soll das Buch keine Weiterentwicklung von Musikgeschichtsschreibung sein.
Es werden verschiedenste Disziplinen herangezogen und zum Teil miteinander verknüpft: Formenlehre, Harmonielehre, Gattungs- und Interpretationsgeschichte, Werkbesprechung, Biografie, auch Anekdotenhaftes, verbunden mit einigen CD-Tipps. Mit diesem Ansatz können verschiedenste Interessen angesprochen und Zusammenhänge deutlich gemacht werden. Dabei macht Wersin es dem Leser nicht immer leicht: Zwar ist seine Sprache flüssig, trotz oft langer Sätze, dabei zuweilen etwas feuilletonistisch (Brahms wurde „lange Zeit einseitig als kühl-beherrschter Konstrukteur etikettiert“), er spart aber nicht mit einer Fülle an Fachbegriffen, die nicht immer erklärt werden. Hier wären dezidierte Verweise auf weiterführende Literatur angebracht, nicht nur eine knappe Literaturliste im Anhang; unbedingt vonnöten wäre ein Glossar oder zumindest ein Register, gerade in Anbetracht der vermuteten Zielgruppe.
Im Groben chronologisch vorgehend, gibt es häufig Sprünge bedingt durch Vergleiche. Die Abschnitte des Buchs beziehen sich auf das Konzerterleben, Bach beim „Alten Fritz“, Gestaltungsprinzipien in Barock und Klassik, musikalische Rhetorik, Sonatenform, Virtuosität, Schubert, lyrische Klavierstücke der Romantik, Oper, Schönberg und abschließend die Aufführungspraxis. Bei dem schmalen Umfang muss notwenig vieles zu kurz kommen (z. B. wird Mahler nur am Rande erwähnt, Bruckner gar nicht). Die Zentrierung liegt auf der Musik des deutschen Kulturkreises, Exkurse beziehen auch die Musik des Mittelalters ein.
Die Verbindung von “Madame Butterfly” und “The turn of the screw” entsteht einzig durch Brittens vernichtende Kritik an Puccinis Musik. Die eingehende Besprechung dieser beiden Opern gehörte eher in einen Opernführer. Sehr gelungen ist, anknüpfend an Formenlehren wie z. B von Clemens Kühn, der Vergleich zwischen barockem Forstpinnungsdenken und klassischer Reihung verwandter Gestalten.
Um der Deutlichkeit willen werden Gegensätze zum Teil auch übertrieben: Ob Haydn nur „die Musik gewordenen Charaktere von außen erleben“ lässt, während Beethoven uns „subjektive Erlebnisse aus der Innenpers­pektive“ liefert, darf mit Blick auf Beethovens erste beiden Sinfonien angezweifelt werden. Dies und einige wenige sachliche Unkorrektheiten schmälern den Verdienst des Autors, gut ausgesuchte Aspekte der Musikgeschichte plastisch darzustellen, keineswegs.
Christian Kuntze-Krakau