August Halm, Wickersdorf, etwa 1906-1910 (Archiv der deutschen Jugend­bewegung N9 149)

Goldstein, Christoph

Flexibler ­methodischer Baukasten

August Halms „Violinübung“ für den Anfangsunterricht – und ­darüber hinaus

Rubrik: Methodik
erschienen in: üben & musizieren 3/2025 , Seite 52

August Halm (1869-1929) dürfte heute lediglich Musikwissenschaft­lerInnen ein Begriff sein. Dabei ist das Konzept seiner „Violinübung“, in der er einen kreativen Umgang mit Musik und spieltechnischen Schwie­rigkeiten in den Mittelpunkt stellt und zur Improvisation führt, noch heute, über 100 Jahre nach dem ersten Erscheinen, höchst innovativ zu nennen und nicht nur für Geigen­pädagogInnen interessant.

August Otto Halm wird 1869 in Großaltdorf, nahe Schwäbisch Hall, geboren. Zunächst nimmt er in Tübingen das Studium der evangelischen Theologie auf, bevor er von 1893 bis 1895 an der Königlichen Akademie der Tonkunst in München Komposition, Violine bei Franz Brückner1 (1838-1915), Klavier und Dirigieren studiert. Danach ist Halm von 1896 bis 1899 in Heilbronn und dann in Stuttgart als Chorleiter und privater Musiklehrer tätig, ehe er von 1903 bis 1910 als Musiklehrer zuerst im Landerziehungsheim Haubinda (Thüringen) und ab 1906 in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf Violine und Klavier unterrichtet sowie Orchester und Chor leitet. Nach einem kurzen Intermezzo als Musik­direktor der Ulmer Liedertafel (1910/11) ist Halm 1913/14 als Musikkritiker bei der Süddeutschen Zeitung Stuttgart tätig. Nachdem er die Zeitung im Mai 1914 im Streit verlassen hat, unterrichtet er bis 1919 am Evangelischen Lehrerseminar Esslingen Violine und Klavier. Nach einem durch Stipendien finanzierten freien Schaffensjahr kehrt Halm 1920 an die Freie Schulgemeinde Wickersdorf zurück. Neben über 100 Kompositionen hat Halm insgesamt 162 Texte, 204 Kritiken, sechs Bücher und zwei pädagogische Lehrwerke (Violinübung und Klavierübung2) verfasst. Er hat zeit seines Lebens unter den unterschiedlichsten Bedingungen kontinuierlich Violinunterricht, hauptsächlich in Unter- und Mittelstufe, erteilt.
Die Ursprünge der Violinübung sind in Halms Lehrtätigkeit an den reformpädagogischen Internatsschulen in Haubinda und Wickersdorf zu suchen.3 Aber erst als er am Evangelischen Lehrerseminar in Esslingen unterrichtet, publiziert Halm 1916 das erste Heft.4 Das zweite Heft, in dem Halm den improvisatorischen Aspekt vertiefen wollte, ist nie erschienen und es sind bis heute auch keine Entwürfe oder Skizzen ausfindig zu machen. Das dritte Heft (gedruckt 1915) ist eine Sammlung von leichter Kammermusik für Streicher in den verschiedensten Besetzungen. Zu einer geplanten Neubearbeitung des ersten Hefts ist es nicht mehr gekommen, denn Halm stirbt überraschend 1929. Bei Bärenreiter sind lediglich eine zweite (1929) und dritte (1933) unveränderte Neuauflage erschienen.

Einstieg mit B-Tonarten

Die Violinübung, für Einzel- und Gruppen­unterricht in allen Altersstufen geeignet, ist ein flexibler methodischer Baukasten. Halm schlägt zwar einen Weg vor, aber andere Wege zu beschreiten, ist – und das ist etwas Besonderes – trotzdem gut möglich. Man kann beispielsweise den Anfangsunterricht auf drei verschiedene Weisen beginnen: mit den B-Tonarten, aber auch mit den Kreuztonarten oder in der dritten Lage. Auch die zentralen Themenfelder Improvisation oder kreativer Umgang mit spieltechnischen Problemen – Halm regt die SchülerInnen etwa dazu an, Fingerübungen selbst zu erfinden – kann man auslassen oder zu einem späteren, passender scheinenden Zeitpunkt einführen.
Schon zu Halms Zeiten war es (wie heute) üblich, mit Kreuztonarten in der ersten Lage anzufangen. Beginnt man, wie Halm es vorschlägt, mit den B-Tonarten, muss sich der vierte Finger nicht so stark strecken, denn er greift ja zunächst nur einen Halbton (es, f, g, as). Beim Start mit den Kreuztonarten in der ersten Lage hingegen muss der vierte Finger stets mit einem Ganzton kämpfen. Gleichzeitig ist die Versuchung groß, den vierten Finger zu vermeiden, weil ja eine viel besser klingende leere Saite als Alternative zur Verfügung steht. So sind Arm, Hand und Finger nicht gezwungen, von Anfang an einen ökonomischen Winkel zur Saite einzunehmen, mit dem sauberes Spiel mit allen Fingern, schnelle Passagen, Doppelgriffe und Vibrato etc. erst gelingen können, denn der kleine Finger ist es, der den Winkel der Hand und des Arms ausrichtet.5

1 Franz Brückner ist Geiger an der Münchner Hofoper, königlicher Kammermusiker und von 1874 bis 1903 Professor für Violine an der Königlichen Akademie der Tonkunst in München.
2 1907 erscheint eine als Manuskript gedruckte Kurzfassung, 1918/19 eine umfangreichere, überarbeitete Ver­sion. Die Klavierübung ist eine angewandte Einführung in die Harmonielehre und die Violinübung hauptsächlich eine Schule der linearen Melodik, der rhythmischen Elementarlehre und der Kammermusik. Beides entspricht dem Wesen der jeweiligen Instrumente. Das Klavier ist das Instrument der Harmonie, die Geige das der Melodie: „[I]m Melodischen führe die Geige, wie das Klavier im Akkordlichen; mit der Zeit wage sich jenes dann mehr und mehr ins Klavierspiel, gleichwie das Akkord­liche ins Violinspiel.“ (Halm, August: „Bildender Klavierunterricht“, in: Die Freie Schulgemeinde 7, Heft 4, Juli 1917, S. 115).
3 Bereits im Vorwort zu seinen 1908 veröffentlichten Stücken zum Vortrag für Violine mit Klavierbegleitung kündigt Halm das Erscheinen einer Violinschule an.
4 Eine kurze, auf die allernötigsten Grundlagen beschränkte Frühfassung des ersten Hefts erscheint bereits 1914.
5 „Gerade der Gebrauch des 4. Fingers schafft das Bedürfnis zur richtigen Handhaltung und das Bedürfnis wirkt besser als Erklären, Regelgeben und Ermahnen.“ (Halm, August: Violinübung. Ein Lehrgang des Violinspiels, 1. Heft, unveränderte Neuauflage, Kassel 31933, S. 11).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2025.

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