Welte, Andrea

Französische Instrumentalschulen um 1800

Vom Wandel des Literaturkonzepts am Beispiel von Devienne, Cartier und Adam

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2010 , Seite 22

Regelwerk mit modellhaften Bei­spielen, Materialsamm­lung für den Unterricht, theoretische Anleitung mit angefügtem Praxisteil: Instrumentalschulen sind sehr unterschiedlich. Die modellhafte, “klassische” Schule existiert nicht. Heutige Instrumentalschulen sind meist Samm­lungen von Übungen und Musikstücken, ergänzt durch Informationen zu Bereichen wie Instrumentenkunde, Musiklehre, Musikgeschichte oder Üben. Das musikalische Repertoire ist durch eine enorme Vielfalt an Musikarten und -stilen gekennzeichnet. Ganz anders im 18. Jahr­hundert: Lediglich die damals aktuelle, zeitgenössische Musik wurde gelehrt. Dies gilt auch noch für viele Schulen im Umkreis der Klassik, auch wenn in dieser Zeit ein spannender ästhetischer Umbruch zu beobachten ist.

Ein Studium klassischer Instrumentalschulen ist aufgrund der detaillierten Anleitungen zur Spielweise unersetzlich für alle Spielerinnen und Spieler historischer Instrumente. Auskunft über die zahllosen Griffmöglichkeiten auf der klassischen Mehrklappenflöte – mit großen klanglichen und intonatorischen Auswirkungen – bietet beispielweise der zweite Band der Flötenschule von Johann Georg Tromlitz (Leipzig 1800).1 Aber auch zu Fragen des musikalischen Vortrags wird man in den Schulen fündig, sodass sich die Beschäftigung auch für SpielerInnen moderner Instrumente lohnt. Gleichwohl müssen die Aussagen im geschichtlichen Zusammenhang gesehen, Verallgemeinerungen und Transfers unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände (soziale Bedingungen, nationale Konventionen, kompositionsgeschicht­liche Aspekte u. a.) vorgenommen werden. Womöglich eignet sich ein Hand­buch wie A Performer’s Guide to Music of the Classical Period2 besser als einzelne Schulen, um einen ersten Überblick über Erkenntnisse der klassischen Aufführungspraxis zu gewinnen.
Im Folgenden interessiert mich vor allem der grundsätzliche Wandel des Literaturkonzepts, der am Ende des 18. Jahrhunderts in Instrumentalschulen einsetzt. Exemplarisch untersuche ich drei Schulen, die in Paris in Zusammenhang mit dem Conservatoire de musique entstanden sind. Eine Betrachtung dieser Schulen, der in ihnen verwendeten Musikstücke und des Umgangs mit ihnen erhellt nicht nur einen Teil unserer instrumentalpädagogischen Vergangenheit, sondern bietet auch die Chance, aktuelle didaktische Entscheidungen auf dem geschichtlichen Hintergrund zu reflektieren.

Musikleben und musikalische ­Ausbildung in Paris um 1800

Die Jahre um 1800 waren in Frankreich eine Zeit des Umbruchs, auf sozial-politischem wie auf musikalischem Gebiet. Die französische Ge­sellschaft war noch immer stark ländlich geprägt, die Mobilität gering: Nur 16 Prozent der Bevölkerung wohnte in Orten mit über 2000 Einwoh­nern. Große Bedeutung kam den Städten als Kommunikationsknotenpunkten und kulturellen Zentren zu. In Paris, das am Ende des 18. Jahrhunderts knapp 600000 Einwohner zählte,3 traf sich die künstlerische und wissenschaftliche Elite zum Austausch. Die Professionalisierung der Musikerausbildung und die Entwicklung des modernen bürgerlichen Musiklebens wurden hier entscheidend vorangetrieben. Musik spielte im revolutionären Frankreich eine große Rolle. Namentlich das Musiktheater wurde zu erzieherischen und politischen Zwe­cken genutzt. Aber auch alle großen Aufmärsche und Feierlichkeiten waren untrennbar mit Musik verbunden. Unzählige Revolutionslieder, Hymnen, Märsche, aber auch groß angelegte sinfonische Stücke wurden komponiert. Zum Föderationsfest, der Feier des Jahrestages der Revolution am 14. Juli 1790, dirigierte François-Joseph Gossec zum Beispiel auf dem Marsfeld seinen Chant Du 14 Juillet vor dreihundert Orchestermusikern und viertausend Choristen. Bei der Uraufführung der Hymne L’Être Suprême am 8. Juni 1794 sollen sogar über 2000 Personen mitgewirkt haben, denen sich unisono circa 500000 Pariser anschlossen.
Auch der Bereich instrumentaler Unterweisung boomte. Allein für Klavier bzw. Pianoforte erschienen zwischen 1789 und 1804 in Paris über zehn Schulen, von denen viele im genannten Zeitraum mehrfach aufgelegt wurden.4 Aufgrund der hohen gesellschaftlichen Bedeutung der Musik wurden zahlreiche professionelle Musiker gebraucht; eine geeignete Ausbildungsinstitution musste dringend geschaffen werden.
Bernard Sarrette, Verwaltungssekretär der Militärverwaltung und Musikliebhaber, erkannte schon bald nach Gründung des Musikkorps der Nationalgarde am 13. Juli 1789 die Notwendigkeit einer staatlichen Militärmusikschule. Im Juni 1792 war es soweit: Die Musiker des Musikkorps wurden von der Kommune damit beauftragt, 120 Söhnen von Nationalgardisten unentgeltlich Instrumentalunterricht zu erteilen. Jedes der 60 Bataillone durfte zwei Schüler für diese École gratuite de musique de la Garde nationale parisienne vorschlagen, in der nach einem strengen Ausbildungsplan zunächst vor allem Blasinstrumente unterrichtet wurden. Am 8. November 1793 wurde die Schule per Dekret überführt in das staatliche Institut national de musique. Als Lehrer konnte Sarrette neben anderen Cherubini, Gossec, Grétry, Lesueur, Méhul und Ozi gewinnen. Knapp zwei Jahre später, am 3. August 1795, erkannte der Konvent das Institut durch ein Gesetz unter dem Namen Conservatoire de musique an und führte es mit der 1784 gegründeten königlichen Gesangs- und Schauspielschule zusammen. Das Conservatoire wurde bald zur führenden musikalischen Ausbildungsstätte in Europa, die die Instrumentalpädagogik nachhaltig beeinflusste.5 Dabei ist bemerkenswert, dass in seiner Entstehungszeit trotz der militärischen Strukturen und der damit verbundenen Gleichschaltung ganz unterschiedliche Instrumentalschulen entstanden sind.

1 Johann Georg Tromlitz: Über die Flöten mit mehrern Klappen: deren Anwendung und Nutzen (The Flute Lib­rary, Bd. 2), Reprint der Ausgabe Leipzig (Böhme) 1800, Buren (Frits Knuf) 1991.
2 hg. von Anthony Burton, London (The Associated ­Board of the Royal Schools of Music) 2002.
3 Im Vergleich hatte Berlin um 1800 nur gut 170000 Einwohner.
4 Siehe Philippe Lescat: Méthodes & Traités Musicaux en France 1660-1800, Paris ­(Institut de pédagogie musicale et chorégraphique la Villette) 1991, S. 171-174.
5 weiterführend siehe: Le Conservatoire de Paris (1795-1995): deux cents ans de pédagogie, hg. von Anne Bongrain und Alain Poirier, Paris (Buchet/Chastel) 1999.

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