© Ingo Pertramer

Pérez-Salado, Klaus

Freiheit und Eigensinn

Autodidaktik als ehrlicher Weg im Einklang mit der inneren Stimme

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2022 , Seite 12

Hundertprozentige Autodidaktik ist eine Utopie. Ein Mensch müsste dafür in völliger Isolation aufwachsen. Der Schlagzeuger Klaus Pérez-Salado fasst den Begriff Autodidaktik weit und zeigt anhand seines eigenen Lern­weges, dass autodidaktisches Lernen in vielen Abstufungen stattfinden und zum Erfolg führen kann.

Die Freiheit, die Inputs, denen man sich täglich exponiert, selbst zu bestimmen: Für mich ist dies der ausschlaggebende Punkt, die eigentliche Basis für Autodidaktik. Im Falle der Musik bedeutet das: selbst zu entscheiden, was, wie und wie lange man übt, und niemandem zu unterliegen, der einem Programme, „unentbehrliche“ KomponistInnen, MusikerInnen oder Werke, Haltungen und Übungen vorschreibt. Es bedeutet, mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen letztlich allein den eigenen, nur von der inneren Stimme bestimmten Weg zu gehen – auch oder gerade dann, wenn das Establishment einen für verrückt halten mag.
Die Möglichkeiten, die sich für solch einen eigensinnigen Weg ergeben, sind heutzutage schier unendlich: YouTube, Apple Music, digitale Noten und Bücher bzw. ganze Bibliotheken, Softwareprogramme am Laptop und Apps am Smartphone oder iPad, um nur einen Bruchteil zu erwähnen. Auf verschiedensten Plattformen kann man nicht nur die versiertesten KünstlerInnen unendlich oft aus der Nähe beobachten; auch Unterrichtseinheiten zu fast jedem denkbaren Thema wurden und werden aufgenommen und sind jederzeit abrufbar, oft sogar unentgeltlich. Autodidaktisches Lernen war noch nie so leicht durchführbar wie heute und die Möglichkeiten dafür wachsen kontinuierlich.
Von dieser Freiheit profitieren am meisten diejenigen Kunstformen, die sich weniger an bestimmte Regeln halten müssen. Beispielsweise im Pop-Bereich bzw. dort, wo man eigene Musik schreibt und aufführt, ist es nicht unbedingt notwendig, die komplette Tradi­tion zu beherrschen und sich die damit verbundene Last an unterschiedlichen Aufführungs- und Interpretationskorsetts anzueignen; doch sogar das ist mittlerweile auf autodidaktischem Weg leichter möglich als je zuvor.

Einstieg im freien Fall

Statt in der Theorie zu verharren, werde ich hauptsächlich meine Vita sprechen lassen. Es ist die eines von der inneren Stimme geleiteten und unaufhörlich neue Inputs suchenden Autodidakten. Ich beginne mit einem Wendepunkt in meinem Leben, um danach in meine Kindheit und Jugend zurückzugehen.
Ich habe am Konservatorium der Stadt Wien, heute Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK), Jazz-Schlagzeug Konzertfach studiert. Ob das der richtige Weg für mich sei, war mir alles andere als klar. Doch nach vielen Krisen und Zweifeln entschloss ich mich in der Mitte meiner Ausbildung – inmitten des größten Dilemmas –, das Studium durchzuziehen. Es war ein rein praktischer Grund, der mich dazu motivierte, und gleichzeitig der Hauptgrund, wieso ich zu studieren begonnen hatte: In Spanien hätte ich zum Militär gehen müssen. Es gab damals keinen Zivildienst und einer der wenigen Wege, den Dienst offiziell hinauszuzögern bzw. die Einberufung zu verhindern, bestand darin, im Ausland zu studieren.
Gegen Ende des Studiums „übermannte“ mich dann doch noch die Motivation, es meinem Lehrer zeigen zu wollen, sprich: ihm zu beweisen, dass ich gut konnte, was er von mir hören wollte – eben dann, wenn ich es wollte; vor allem, wenn ich mir die Zeit nahm, mich mit der Materie zu befassen, die verlangt wurde. Diese korrelierte nicht unbedingt mit der­jenigen, die mich brennend interessierte. Studienpläne sind bloß kalte, gut gemeinte und überwiegend einheitliche Vorgaben.
Mein Einsatz hatte sich gelohnt: Ich schaffte mein Dip­lom mit Auszeichnung. Wie nicht anders zu erwarten, kam es daraufhin zum obligatorischen Höhenflug, der aber leider nicht länger als ein oder zwei Wochen anhielt. Dann folgten freier Fall, Sinnfrage und absolute Leere. Sehr bald stand die einfache Frage im Raum, wieso ich überhaupt begonnen hatte, Musik zu machen. Ich spulte zu meiner Kindheit zurück und versuchte, meine damaligen „Geister“ zu finden, um sie bestenfalls wieder zum Leben zu erwecken. Meine Geister waren irgendwo in der Pop- und Rockmusik, bei den Beatles, Police, AC/DC und einigen weiteren Bands, die mich dazu gebracht hatten, für Musik zu brennen, und mir die ersten Erlebnisse auditiver Überwältigung, wie ich sie gerne nenne, beschert hatten. Sie waren es, die mich dazu bewegt hatten, ins Musikmachen einzutauchen.

Musikmagnet

Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke und an die Rolle der Musik denke, fällt mir das Bild von Odysseus und den Sirenen ein. Ich sehe dabei viele prägende Momente, in denen ich magisch angezogen war von einem musikalischen Signal, Input, Schlüsselreiz – oder wie auch immer man es bezeichnen mag. Ich erinnere mich an einen Urlaub, da war ich ungefähr drei Jahre alt. Meine Familie und ich kamen am Nachmittag ins kleine Zimmer einer alten Pension. Das große, bis zum Boden reichende Fenster stand offen und durch das Geländer konnte ich auf eine Freiluftdiskothek hinunterschauen. Die gebuchte Band war gerade dabei, ein paar Songs durchzuspielen. Für sie war es nur der obligatorische Soundcheck, für mich als Dreijährigen aber ein grandioses Erlebnis. In der Nacht wartete ich im Dunkeln, bis diese Band wieder ihre magischen Töne von sich gab, stand auf und lauschte heimlich, am Boden sitzend. In meinen damaligen Augen waren es Götter.
Ich kann mich noch gut an unseren ersten Kassettenrekorder erinnern, an das ständige Aufnehmen von Songs aus dem Radio, an das kleine Kassettengeschäft (ja, Kassettengeschäft!), welches neben der Bushaltestelle am Weg zur Schule war, an den Plattenladen, in dem ich mir mit fünf mein erstes Beatles-Album aussuchte, und an die Riesenkiste mit Singles der 60er und 70er, die uns unsere Cousins schenkten.
Zum Glück habe ich zwei ältere Brüder, die vieles begünstigten. Mit Gleichaltrigen konnte ich damals mein Interesse an Pop- und Rockmusik lange nicht teilen. Nach Unterrichtsende war der erste Weg unzählige Male direkt in das Plattengeschäft, um zu fragen, ob das neue Album von Band X oder Y schon angekommen wäre. Irgendwann bekamen wir dann auch den ersten „ordentlichen“ Plattenspieler, mit Verstärker, aber noch ohne Lautsprecher – die kamen erst ein paar Jahre später. Bis dahin hatten wir nur ein einziges Paar Kopfhörer. Meine Brüder und ich teilten die Nachmittage im Stundentakt ein und legten fest, wer wann hören darf.

Copying

In der Schule gab es eine Gitarrengruppe, in der zwanzig bis dreißig Kinder gleichzeitig sangen und Gitarre spielten. Wir lernten einige Akkorde bzw. rhythmische Figuren für die Schlaghand und schon bald darauf spielten wir zu Hause selbstständig zu Schallplatten und hörten alle möglichen Lieder heraus. Als ich elf war, brachte der Schlagzeuger der Band, in der meine Brüder spielten, sein Schlagzeug über Weihnachten zu uns nach Hause – es war Liebe auf den ersten Blick. Ab diesem Zeitpunkt bettelte ich meine Eltern täglich an, bis ich ein Jahr später Teile eines gebrauchten Schlagzeugs bekam.
Meine Brüder und ich spielten weiterhin ständig zu Schallplatten, sowohl auf der Gitarre als auch am Schlagzeug. Später spielten wir dann gemeinsam diese Songs nach, meine Brüder am Bass und der E-Gitarre und ich am Schlagzeug. Einer der beiden trieb das Copying ins Extrem: Er konnte letztendlich mit siebzehn Jahren ca. 90 Prozent aller Gitarrensoli von Mark Knopfler nachspielen – akribisch genau und mit exakt dem gleichen Klang wie bei dem britischen Gitarristen. Aus den auf Betamax (ein von Sony in den Siebzigern entwickeltes Halbzoll-Magnetbandsystem) aufgenommenen TV-Konzertmitschnitten schaute er die Handtechnik genauestens ab: wie er die Finger wo platziert und wie benutzt; um wie viel das Schweißband am rechten Handgelenk die auf der Gitarre aufgelegte Hand erhöht; wo diese auf der Gitarre genau aufliegt etc.

 

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2022.