© Andreas Doerne

Rüdiger, Wolfgang

Freiheit vom | zum Werk

Für einen offenen Umgang mit Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2019 , Seite 16

Freiheit und Demokratie – bzw. ihr Gegenteil: Unfreiheit und Auto­kratie – ­spiegeln sich auch im künstlerisch-pädagogischen Denken und Handeln: in der Musikwahl und Übeweise, Aufführungspraxis und Interpretation, Programmkonzeption und Konzertgestaltung sowie in der Form des Umgangs mit Schülern, Hörern, Spielern – und uns selbst.

Ob wir in dem, was wir spielen und unterrichten, vornehmlich der „klassischen“ Tradition verhaftet bleiben oder darüber hinaus auch populäre und neue Musik, konzeptuelle, politische, improvisierte und solche anderer Kulturen aufführen, mit anderen Künsten bzw. Medien verbinden und lebensnah vermitteln, ist eine Frage der Freiheit: der Entscheidung, Abschied zu nehmen von überkommenen Gewohnheiten, marktbeherrschen­den Konventionen, subjektiven Vorurteilen, auch Vorlieben, und wach und neugierig zu bleiben für die musikalische Vielfalt der Welt, in der wir leben.

Das einzige Kriterium der Pädagogik ist und bleibt allein – die Freiheit …, die einzige Grundlage … die Erfahrung.*

Ob wir uns beim Üben im Hamsterrad end­loser Wiederholungsschleifen drehen oder ein Werk von innen her durchleuchten, seine „Machart“ erkunden und kreativ mit seinen Materialien spielen, das heißt unterschiedlich, differenziell, improvisatorisch üben, ist eine Frage der Freiheit, den Tiefenschichten von Musik und uns selbst auf den Grund zu gehen, neue Dinge zu entdecken und musikalisch wie mental beweglich zu bleiben, mit Lust an der Verschiedenheit, die Signatur unserer Zeit ist.1
Ob unsere Interpretation beweglich und lebendig bleibt, steht mit der Vielfalt von Musik- und Übeformen in Verbindung. Wer variabel und variantenreich mit Musik, Körper und Klang umgeht, dabei Dynamik, Gestik, Agogik etc. in ihre Extreme ausreizt und etliche Alternativen ausprobiert, ohne sich vorschnell festzulegen, wird eher zu einer unverwechselbaren Interpretation finden als jemand, der sich dem Diktat des Notentextes unterwirft. Das betrifft vor allem die Freiheit einer geschmeidigen Zeitgestaltung und weitgespannten Dynamik, die Musik wie aus dem Moment geboren erscheinen lässt.2
Ob Schülervorspiele und Konzerte uns langweilen oder bewegen, hängt von Aspekten ab, die wir frei wählen und immer wieder neu kombinieren können. Eine kluge und organische, eventuell themenbezogene Verknüpfung verschiedener Musiken, Musizierweisen und Kunstformen, verbunden mit geschickter Performance im Raum sowie persönlicher Ansprache und aktiver Einbeziehung der Hörer, ermöglicht eher ein packendes Konzerterlebnis als ein Abspulen bekannter Werke – wozu auch die Freiheit gehört, die „Wirklichkeit“ in den Konzertsaal zu holen und das Konzert in die Wirklichkeit.3
Solch reflektierte Vielfalt, Vielstimmigkeit und Verschiedenheit musikalischer Praktiken hat ihren Ursprung im Umgang mit uns selbst, unseren Schülerinnen und Schülern, auch Kollegen: in der Achtsamkeit und Offenheit für die eigenen, sich wandelnden Gefühls- und Gedankenwelten in Auseinandersetzung mit der aktuellen Wirklichkeit – und in der Wertschätzung der Musik- und Weltsicht anderer, die ihre eigenen Wünsche an Musik hegen, auf die nur ein persönlich bedeutsames, selbst initiiertes Lernen in Freiheit wirklich eingehen kann.4 Im Gegensatz dazu neigen selbst Künstler-Pädagogen, die eigentlich Anwälte einer Freiheit zum Lernen sein sollten, dazu, ihre Lehrerrolle misszuverstehen und jemandem etwas „beibringen“ zu wollen – in unserem Fall: Stücke in Schüler und Studierende zu stopfen, die ihre „musikalische Leber“ zum Wachsen, die Lust an Vielfalt und neugierigem Versuch jedoch zum Welken bringen.5
Ein freies Praktizieren und Weitertragen von „Kunst als Praxis der Freiheit“6 aber würde bedeuten, dass wir die Quellen von Musik und Musizieren ein Leben lang sprudeln lassen: Musik aus der Tiefe unseres klingenden Selbst erfinden, sprechen, singen, spielen, improvisieren, am besten im Zusammenspiel mit anderen – und umgekehrt Stücke auf ihre flüssigen Ursprünge zurückführen, denen sie entspringen, um daraus Neues entstehen zu lassen. Schülerinnen und Schüler an dieser offenen Praxis teilhaben zu lassen bzw. sie auf der Basis einer guten Beziehung zu einem verantwortungsvollen freien Umgang mit Musik anzuregen, wäre die wahre „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno). „Wenn man Freiheit und selbst bestimmtes Denken als Ziel des erzieherischen Handelns begreift, dann lebt man auf eine Weise zusammen, die von wechselseitigem Respekt für die Autonomie des anderen getragen wird. […] Ein Lehrer bringt einem nicht irgendeinen Inhalt bei, sondern man lernt eine Lebensweise kennen. […] Meine Behauptung ist: Der Schüler lernt den Lehrer.“7
Ein zentraler Punkt einer musikalischen Pädagogik der Freiheit, in der die genannten Aspekte zusammenfließen, ist die Art und Weise, wie wir mit komponierten Werken umgehen, die den Schwerpunkt unserer Ausbildung und Aufführungspraxis bilden. In den folgenden Beispielen geht es darum, eine offene Umgangsweise mit Musik vorzuleben, die die Dominanz von Werken und Werkinterpretation in unserer Kultur in Frage stellt, indem sie Kompositionen auf den Teppich ihrer Entstehung holt und in das freie Spiel zurück­verwandelt, aus dem alle Kunst entspringt.8 Gehen wir zunächst von einem kleinen Klavierstück aus und überlegen, welche Angebote es unterbreitet und was wir damit machen können.9

* Leo Tolstoi: Gedanken über Volksbildung, 1862.
1 vgl. Martin Widmaier: Zur Systemdynamik des Übens. Differenzielles Lernen am Klavier, Mainz 2016.
2 vgl. „Quo vadis, ,Alte Musik‘? Zur Rolle der Zeitgestaltung in der historisierenden Aufführungspraxis der Zukunft. Ein Gespräch mit Robert Hill“, in: Musik & Ästhetik, Heft 73, Januar 2015, S. 5-23.
3 z. B. die Flötenklänge des philippinischen Regenwaldes in die Aufführung einer Improvisationsvorlage des Komponisten und Musikethnologen Jonas Baes: Patangis-Buwaya (2003). Am Ende werden die Hörer zu Spielern und die Spieler zu Hörern.
4 vgl. Carl R. Rogers: Lernen in Freiheit. Zur inneren ­Reform von Schule und Universität, Frankfurt am Main 1988.
5 Nach der „Legende von einer Stopfgans und einem Kind“ von Ruth C. Cohn, in: Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule, hg. von Ruth C. Cohn und Chris­tina Terfurth, Stuttgart 1993, S. 8 f.
6 vgl. Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin 2014, Kapitel 4.
7 Humberto R. Maturana/Bernhard Pörksen: Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens, Heidelberg 2002, S. 134-136. Dazu bedarf es freilich ­eines sensiblen Lehrerverhaltens in der Balance von Anregen und Aufgeben, Zeigen und Zurückhalten, Helfen und Freilassen.
8 nach Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. Wenn der Spielcharakter von Musik verloren geht und die beherrschende Rolle von scheinbar festgefügten Werken übermächtig wird, dann stimmt etwas nicht in der Musikausbildung und bedarf der Korrektur, um der „Freiheit des Handelns und der Person“ willen; vgl. Thomas Kabisch: „Hans Kellers Functional Analysis und die Voraussetzungen des differentiellen Hörens“, in: Musik & Ästhetik, Heft 49, Januar 2009, S. 85.
9 Mit Dank an Barbara Busch und ihre Masterstudierenden Elisabeth Danecker, Anja Günther und Severin Krieger für die Einführung von In the Desert als Modellfall von Methodenvielfalt im WS 2016/17 an der Robert Schumann Hochschule.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2019.