Raff, Joachim

Frühlingsboten

12 Klavierstücke op. 55, hg. von Ulrich Mahlert

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2022
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 59

Jubiläen schaffen nicht selten einen willkommenen Anlass, sich mit Komponisten zu beschäftigen, die – aus welchen Gründen auch immer – etwas in Vergessenheit geraten sind. So ist es auch beim 200. Geburtstag von Joachim Raff (1822-1882), der zum Neudruck und zu CD-Aufnahmen vieler seiner Werke geführt hat. Der seinerzeit sehr geschätzte Komponist, gefördert von Mendelssohn, Assistent von Franz Liszt, Freund von Hans von Bülow, später Gründungsdirektor des Hoch’schen Konservatoriums in Frankfurt, wo er unter anderem Clara Schumann beschäftigte, hat Werke in quasi allen wesentlichen Gattungen hinterlassen. Darunter sind auch zahlreiche Klavierwerke.
Die Stücke aus der vorliegenden Sammlung wurden 1852/53 komponiert, stammen also aus der Mitte seines Lebens und ­repräsentierten im Verständnis des Komponisten einen Neubeginn, der sich nicht nur auf seine Arbeit bezog, sondern auch auf sein Privatleben, wo er im Begriff war, sich zu verheiraten. Nicht zufällig gibt es deshalb in den Stücken einige lyrische Duett-Konstellationen. Der Titel weist also in mehrere Richtungen. Die kürzeren der Stücke erinnern in Umfang und Schwierigkeitsgrad teilweise an Mendelssohns Lieder ohne Worte, andere enthalten aber auch virtuose Kadenzen und Oktavpassagen, die eher an Liszt denken lassen.
Trotz solcher Assoziationen wirken die Stücke aber durchaus eigenständig. Der Klaviersatz ist häufig sehr polyfon und konsequent durchgearbeitet. Ein Kabinettstück ist die Nummer 6 mit dem Titel Wirrniss, eine Fuge in cis-Moll, deren Thema sich durch fast schon bizarre Septimenschritte auszeichnet. Das ist außerordentlich wirkungsvoll, aber alles andere als leicht zu spielen. Ansonsten ist der Klaviersatz in den bewegteren Stücken pianistisch geschmeidig, teilweise auch rhythmisch-metrisch interessant. Die Stücke stehen alle in verschiedenen Tonarten (nur E-Dur kommt zweimal vor); außergewöhnlich ist sicher das Gelübde „in modo dorico“, also in dorisch. Harmonisch gibt es immer wieder überraschende Wendungen.
Die Ausgabe folgt der von Raff revidierten Ausgabe von 1860. Die Veränderungen werden in den Kommentaren zu den Stücken angegeben. Der Herausgeber Ulrich Mahlert zitiert im Vorwort außerdem längere Passagen aus einer Rezension der Stücke von Hans von Bülow, der die „großen-kleinen Stücke“ als meisterlich lobt, in denen es dem Komponisten gelungen sei, das „tiefe und in seiner Tiefe doch klare musikalische Gefühl“ durch einen „hohen, idealen Kunstgeschmack“ zu formen.
Raff hat auch Fingersätze geschrieben. Sie sind nicht immer geschickt, stehen auch nicht immer dort, wo man sie braucht, oder aber dort, wo man sie nicht benötigt. Vielleicht zeigen sich hier die Spätfolgen seiner überwiegend autodidaktisch erworbenen Instrumentalkenntnisse. Interessant ist das trotzdem. Das Notenbild der Ausgabe ist sehr klar, die Papierqualität angenehm für Hand und Auge.
Linde Großmann