Amon, Reinhard

Funktionelle Harmonielehre

Lehr- und Handbuch zur Funktionstheorie und ­Funktionsanalyse

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 2019
erschienen in: üben & musizieren 2/2020 , Seite 58

Man traut seinen Augen nicht. In einer Zeit der Krise der Musiktheorie legt Reinhard Amon eine Harmonielehre vor, die den Ansatz „Funktionslehre pur“ mit Selbstbewusstsein verfolgt. Wird anderswo in flirrender Verlegenheit über den eigenen Standort reflektiert (eher künstlerisches Fach? eher wissenschaftlich?), werden lang bewährte methodische Grundansätze (Stufen?, Funktionen?, Akkordsymbole?, Generalbass?) vielfach als unangenehme Einengungen verpönt, bekennt sich der Wiener Autor in seinem Buch eindeutig zu einer Methode, die – in Ansätzen schon seit Jean Phillipe Rameau in Gebrauch – ganz offensichtlich so schlecht nicht gewesen sein kann.
Amon, der durch zwei grundlegende Lexika zur Harmonielehre und zur musikalischen Form Bekanntheit erlangt hat, legt ein klares Bekenntnis dazu ab, dass die Funktionstheorie ein unverzichtbares Werkzeug zum Verstehen der durmoll-tonalen Musik sei. Und er gesteht, dass es manchmal etwas dauere, bis man die Techniken erlernt habe, sich dann aber die Erfolge schnell einstellen. So versteht er auch sein neues, gut gemachtes Lehrbuch: Zahlreiche Ausschnitte aus Werken von Bach bis Wagner, von Beethoven bis Strauss werden mit Funktionen analytisch chiffriert und in angehängten kurzen Kommentaren erläutert – oft auch hinterfragend diskutiert oder durch Blassdruck verworfen. Dieses Vorgehen entpuppt sich als äußerst hilfreich, zeigt es doch, dass letztlich jedes Werk ein Unikat darstellt. Zudem durchschreitet Amon alle zentralen Felder der Harmonielehre und schafft so gleichsam einen stringenten Lehrgang von einfachen Hauptfunktionen bis hin zu Modulationsverfahren.
Dass dabei eine Art „Kompen­dium zur Funktionstheorie“ entsteht, ist erklärte Nebenabsicht des Autors. Denn zur Nutzung des Buchs im Speziellen wie auch zur harmonischen Analyse im Allgemeinen kann es ungemein hilfreich sein, eine tabellarische Übersicht zu haben, welche die manchmal komplizierten und von den verschiedenen Autoren beileibe nicht einheitlich verwendeten Chiffren zusammenstellt und erläutert. Auch dass Amon keine Schreibanleitung verfolgt, sondern sich auf das Feld der harmonischen Analyse konzentriert, ist eher von Vorteil, denn so verhindert er eine sich selbst verwässernde methodische Grundlinie.
Das Buch wird abgerundet durch eine lesenswerte „Geschichte der Funktionstheorie“, ergänzt durch eine Kurzbiografie Hugo Riemanns. Riemann hat sich zwar zeitlebens in die abstruse Idee einer „Untertonreihe“ verrannt, ihm kommt aber der Verdienst zu, ein in sich stimmiges und logisches System zur Erklärung harmonischer Kräfte erdacht zu haben. Und so schließt sich der Kreis: Studierende werden durch Amons Buch einen sicheren Halt bei der Analyse gewinnen, so sicher wie der eiserne Handlauf des Geländers an Bord eines schwankenden Schiffs.
Thomas Krämer