Klier, Johannes

Geheimnis zweier Freunde

Die Urheberschaft des „Prélude ,Silvius Leopold Weiss‘“ – eines der bekanntesten Stücke für Gitarre – steht nun fest

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 2/2020 , Seite 54

Die Geschichte des „Prélude ,Silvius Leopold Weiss‘“ lag viele Jahrzehnte im Dunkeln. Sicher ist nur, dass das Gitarrenstück ab den Jahren 1931/32 im Repertoire von Andrés Segovia auftauchte und dass er es seit dieser Zeit immer wieder in seinen Kon­zerten spielte. Als Komponisten nannte er den Barocklautenisten Silvius Leopold Weiss (1687-1750).

Erst seit Anfang der 1980er Jahre gibt es gesicherte Belege dafür, dass es Manuel Ponce war, der dieses außergewöhnliche Gitarrenwerk auf Bestellung von Andrés Segovia komponiert hat. „Ich habe mir dein Werk angeschaut. Ich mag es sehr und das Prélude sogar mehr als den Tanz. Ich arbeite wahnsinnig daran. […] bleib bei den Sätzen dieser Suite, die verspricht, erstklassig zu werden.“1 So der spanische Gitarrenvirtuose Andrés Segovia in einem Brief vom November 1931 an den mexikanischen Komponisten Manuel Ponce.
Fünf Jahre später bezieht er sich noch einmal auf dieses Stück: „Mein lieber Manuel: […] du hast ein exquisites kontrapunktisches Gewebe um dein altes Prélude geflochten, das Falla so geliebt hat. Du hast die unerschöpflichen Ressourcen deiner ewig jungen Imagination bewiesen, indem du einen zweiten Körper für dieses kleine Werk geschaffen hast, der so vollkommen ist, dass er fast ein unabhängiges Leben führen könnte. […] Ich umarme dich herzlich, Andrés.“2
Segovia bezieht sich in seinen beiden Briefen auf das Prélude, das Manuel Ponce 1931 auf Segovias Wunsch im Stil von Silvius Leopold Weiss komponiert hat. Gedacht war das Prélude als erster Satz einer Suite für Gitarre solo. Fünf Jahre später aber hat Ponce das Prélude für Gitarre und Cembalo bearbeitet – das betreffende Manuskript tauchte erst in den frühen 1980er Jahren auf3 –, während das Manuskript des Solowerks bis auf den heutigen Tag verschollen geblieben ist.

Das Geheimnis zweier Freunde

Die beiden Freunde machten von Anfang an ein großes Geheimnis um die Urheberschaft Manuel Ponces und Segovia spielte mit dessen Zustimmung jahrzehntelang das Prélude als ein Werk von Silvius Leopold Weiss. Die problematische Zuordnung ist eine Erklärung, warum es das Prélude bis zum Jahr 2019 nicht als Notenausgabe gab.4 Da das Stück als Werk von Silvius Leopold Weiss galt, wollte der Schott-Verlag vor der Veröffentlichung die Originalquelle einsehen. Um jedoch ihr Geheimnis zu wahren, verzichteten Ponce und Segovia auf die Veröffent­lichung, und so blieb das Prélude neben einigen anderen „barocken“ Werken von Manuel Ponce ausschließlich zum persönlichen Gebrauch von Andrés Segovia bestimmt.
Ein weiterer Grund für die Nichtveröffentlichung ist sicherlich auch die Tatsache, dass das Original-Manuskript der ursprünglichen Fassung für Gitarre solo Berichten zufolge bei der Plünderung von Segovias Wohnung in Barcelona in den ersten Tagen des Spanischen Bürgerkriegs (1936 bis 1939) mit vielen anderen seiner Manuskripte verloren gegangen ist.
So stand uns bislang lediglich die akustische Version des Solowerks auf den Schallplatten von Andrés Segovia zur Verfügung.5 Zwar existieren Abschriften einiger Schüler Segovias, die das Stück mit Segovias Erlaubnis am Instrument von ihm „abnahmen“ und in Segovias Version spielten. Aber ob es sich dabei um Ponces Urtext handelt, darf stark bezweifelt werden, denn Segovia „bearbeitete“ oftmals die Werke seiner Komponisten, um sie seinem Spiel anzupassen. Für uns ist dieses unbefangene Vorgehen heute schwer nachvollziehbar.

Fruchtbare ­Zusammenarbeit

Segovias erste Konzertreise nach Mexiko fiel in das Jahr 1923. Nach seinem ersten Konzert in Mexico-City lernte er Manuel Ponce kennen und beide waren einander sofort sympathisch. Daher bat Segovia den Komponisten, ein Stück für Gitarre zu komponieren. Ponce stimmte gerne zu, und kurze Zeit danach entstand sein erstes Werk für Gitarre solo.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das große Repertoire für Gitarre der vergangenen 450 Jahre, so wie wir es heute kennen, noch nicht bekannt. Viele wichtige Originalwerke hatte man noch nicht wiederentdeckt und so spielte man einige wenige Stücke von Sor, Aguado, Tárrega, einige Stücke aus der Vihuela-Literatur sowie Transkriptionen diverser Klavierwerke von Albéniz, Granados, aber auch Brahms, Schumann und Mendelssohn.
Im Mai 1925 reiste Ponce zusammen mit seiner Frau Clema nach Frankreich, um dort die neuesten musikalischen Strömungen und Entwicklungen kennen zu lernen. Glücklicherweise lebte auch Segovia zur selben Zeit in Paris und hier begann die lebenslange Freundschaft der beiden Künstler sowie die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Gitarristen. Es entstanden einige der wichtigsten Kompositionen für Gitarre im 20. Jahrhundert, von denen die meisten im Gitarren-Archiv des Schott-Verlags erschienen sind, herausgegeben von Andrés Segovia.
Neben diesen „offiziellen“ Werken komponierte Ponce jedoch auf Segovias Bitte hin auch Stücke, die zu Lebzeiten Ponces weder zur Veröffentlichung gelangten noch als seine Kompositionen bekannt wurden. Wie gesagt stand zur damaligen Zeit das große Gitarrenrepertoire noch nicht zur Verfügung. Segovia, mit dieser für ihn schmerzlichen Situation konfrontiert, ermunterte daher viele Komponisten seiner Zeit, etwas für ihn und sein Instrument zu komponieren. Manuel Ponce tat dies mit viel Liebe und Hingabe und obwohl er das Instrument selbst nicht spielte, eigneten sich sein Kompositionsstil und seine Tonsprache sehr für den Klang und das Wesen der Gitarre. Sein Credo war: „Die Gitarre ist ein exquisites Instrument, empfindsam, zart, geheimnisvoll, das eine einzigartige Welt in sich birgt.“6

Stilimitate auf ­höchstem Niveau

Von Federico Moreno Torroba erfahren wir von Ponces großer Fähigkeit, verschiedene musikalische Stilarten zu imitieren: „Sein kompositorisches Können war außergewöhnlich. Segovia erzählte mir, dass er [Ponce] einmal in Paris in einem Café halb zum Spaß und halb im Ernst eine Studie, in der er Bachs Stil imitierte, niederschrieb, sodass wir heute beim Hören dieser Improvisation eines Experten bedürfen, der uns sagen kann, wer das Werk schuf, Ponce oder der große deutsche Komponist.“7
Und so kam es, dass Segovia den Freund bat, auch einige „barocke“ Werke zu schreiben und sie Silvius Leopold Weiss zuzuordnen. Denn Segovia wollte keinesfalls seine Konzertprogramme mit Kompositionen nur eines einzigen Komponisten, nämlich Ponce, füllen. Die Wahl von Silvius Leopold Weiss war ein guter und geschickter Schachzug. Die Lautenkompositionen Weiss’ waren auf zahlreiche Manuskripte, Abschriften und Tabulaturbücher in ganz Europa verteilt, eine Gesamtausgabe gab es damals noch nicht und darüber hinaus stand zu dieser Zeit Lautenmusik nicht im Fokus der Musikwissenschaft.
Segovia war zur damaligen Zeit nicht der einzige Musiker, der so handelte. Der berühmte österreichische Geiger Fritz Kreisler komponierte ebenfalls Werke, die er im frühen 20. Jahrhundert als neu entdeckte Werke von Pugnani, Vivaldi und Corelli in seinen Konzerten spielte. Erst 1935 erklärte er der Öffentlichkeit, dass er selbst der Komponist dieser Werke sei. Vielleicht hatte Segovia diese Aktion im Hinterkopf, denn als er einmal mit Kreisler zusammen ein Konzert zu spielen hatte, wollte er diesem einen Streich spie­len.8 Er bat Ponce, ein Stück im Stil von Johann Sebastian Bach zu komponieren. Im Konzert wurde es dann jedoch offensichtlich, dass kein Zeitgenosse von Bach es geschrieben haben konnte.
In einem Interview von 1981 in der amerikanischen Zeitschrift Frets berichtete Andrés Segovia, wie das Stück zustande gekommen war: „Ponce war ein großer Komponist und wir entschlossen uns, Kreisler einen kleinen Streich zu spielen. Ich sollte mit Kreisler zur gleichen Zeit in London ein Konzert bestreiten. Nun pflegte Kreisler in seine Programme Stücke von Corelli und anderen aufzunehmen, die von Kreisler selbst geschrieben worden waren. Ich sagte daher zu Ponce: ‚Wenn ich mit Kreisler in dem Konzert spiele, wirst du eine Komposition im Stile Bachs für mich schreiben, die ich in diesem Programm spielen werde, aber wir werden den Namen eines anderen Komponisten verwenden.‘ Ponce schrieb eine Suite, aber erst im letzten Stück gab es gewisse Harmoniefolgen, die sich von der Epoche Bachs unterschieden. Als Kreisler die Musik hörte, kam er zu mir und rief: ‚Wo haben Sie diese wunderschönen Stücke entdeckt?‘ Und ich sagte ihm ‚am selben Ort, wo Sie einige Stücke von Corelli entdeckt haben.‘ – ‚Ah‘, sagte er, ‚ich verstehe.‘“9
Man gewinnt den Eindruck, dass Segovia ausprobieren wollte, ob er ebenso gut wie Kreisler die Öffentlichkeit täuschen konnte. Möglicherweise ist dies ebenfalls einer der Gründe für seine lange Weigerung, den wahren Komponisten dieser Barockstücke zu nennen.

Positive Folgen für alle Beteiligten

Ironie der Geschichte: Viele Jahrzehnte lang wurde das Prélude von Manuel Ponce und Andrés Segovia unter falscher Flagge präsentiert. Dennoch ergaben sich daraus überraschend positive Folgen für den Komponisten, den Gitarristen und den fiktiven Schöpfer Silvius Leopold Weiss. Zum einen konnte Ponce sich schmeicheln, dass dieses Stück zu einem der beliebtesten Stücke seines gesamten Œuvres wurde – auch wenn er als dessen Schöpfer im Verborgenen blieb. Es war Silvius Leopold Weiss, dem die Begeisterung lange Jahre galt und dessen Werke daraufhin im 20. Jahrhundert neu entdeckt wurden. Und als Dritter war nicht zuletzt Segovia froh, ein so beliebtes Werk spielen zu können, auch wenn ihn sein Gewissen nach Jahren drängte, sich zu dem komödienhaften Spiel mit seinen amüsanten Details zu bekennen. Segovia hatte angekündigt, im zweiten Teil seiner Autobiografie diese Geheimnisse zu lüften und Manuel Ponce als Komponisten all dieser Stücke die Ehre zu geben. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen: Andrés Segovia starb am 2. Juni 1987.10
Diese Geschichte zeigt, dass nicht nur Menschen, sondern auch Kompositionen ein Schicksal haben können. Nun, da das jahrzehntelange Geheimnis um dieses Werk endgültig gelüftet ist, kann ihm endlich Gerechtigkeit widerfahren.11

1 Miguel Alcázar (Hg.): The Segovia-Ponce-Letters, ­Editions Orphée, Columbus, OH 1989, S. 102. Vgl. auch ­Miguel Alcázar: Manuel Ponce – Obra Completa para Guitarra, Ediciones Étoile, Conaculta, Mexico-City 2000, S. 185.
2 Alcázar, The Segovia-Ponce-Letters, S. 161 ff. Vgl. auch Corazón Otero: Manuel M. Ponce and The Guitar, Musical New Services Limited, Bimport, Shaftesbury, Dorset 1983, S. 53.
3 Corazón Otero (Hg.): Manuel M. Ponce, Prélude para guitarra y clavecin, Ediciones Musicales Yolotl, Mexico 1985.
4 vgl. die 2019 erschienene Rekonstruktion: Manuel Ponce: Prélude „Silvius Leopod Weiss“, hg. von Johannes Klier, Schott, GA 576, Mainz 2019.
5 Andrés Segovia spielt, DGG 19051 LPEM. In Amerika durch DECCA Records Inc., New York, aufgenommen.
6 Otero, Manuel M. Ponce and The Guitar, S. 22.
7 ebd., S. 3.
8 Kevin Manderville: Manuel Ponce and The Suite in a Minor: Its Historical Significance and an Examination of existing Editions, Phil. Diss., Florida State University 2006, S. 21.
9 Rick Gartner: „Andrés Segovia“, in: Frets, Vol. 3, no. 12, 1981, S. 32.
10 Zu einer ausführlichen Darstellung der Geschichte dieses Stücks, seiner musikalischen Analyse und Erklärungen zur Rekonstruktion siehe: Johannes Klier: „Das Prélude ,Silvius Leopold Weiss‘ von Manuel Ponce – Hintergründe zur Entstehungsgeschichte, Rekonstruk­tion und Analyse“, www.johannes-klier.de > Publikationen > Fachartikel.
11 vgl. Anm. 4.

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