Greiner, Jule

Gehört wie gesprungen

Musikhören mit Vorschulkindern in der Elementaren Musikpädagogik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2009 , Seite 12

Musik umgibt uns in unserem Alltag nahezu überall. Obwohl dabei meist kein bewusstes Hinhören stattfindet, kann ihre unerwartete Abwesenheit Unsicherheit oder gar Angst ­auslösen. Ein Anliegen der Elementaren Musikpädagogik ist es, Hörerlebnisse zu er­möglichen und der Gewöhnung einen aktiven Umgang mit Musik entgegenzusetzen.

Montagmorgen, 9 Uhr in der Musikschule. Oft ein prob­lematischer Unterrichtstermin für Lehrkräfte, denn bereits Vorschulkinder haben nicht selten ein Wochenende mit „Fastfood-Sensualität“1 verbracht, an dem sie stundenlang vor Playstation, Computer oder Fernseher gesessen haben. Ohne Gelegenheit, die Menge an (vorwiegend akustischen und optischen) Sinneseindrücken zu verarbeiten, bedeutet dieser konsumorientierte „Zeitvertreib“ hoffnungslose Reizüberflutung, die, wird sie unterbrochen, oft in überbordenden, unkoordinierten Bewegungen Entladung erfährt. Eine weitere negative Auswirkung zeigt sich im Überdruss oder Desinteresse der Kinder an sensibleren und feineren Sinnesreizen. Dieses Montagssyndrom müssen wir bedauerlicherweise immer häufiger in Kindergärten und Schulen beobachten. Kinder leben heutzutage in einer stark mediatisierten Umgebung, die körperliche und kreative Eigentätigkeit nicht nur nicht fördert, sondern ihr sogar oft entgegenwirkt. Die virtuelle Welt der Computerspiele und Videos suggeriert eine permanente Verfügbarkeit von Spielangeboten in fantastischen Szenarien, aber sie verhindert (nicht zuletzt durch die Fülle und das rasante Tempo der Bilderflut) eine Verarbeitung der Informationen. Ein kreativer Umgang mit dem Material, ein Sich-Besinnen, ein Sich-Einverleiben kann erst gar nicht statt­finden. „Mediziner mahnen an, dass durch stundenlange Berieselung eine gezielte, signalabhängige Verknüpfung der Netzwerke im Gehirn verhindert wird, die eine wichtige Voraussetzung für differenziertes Hören darstellt.“2
Szenenwechsel: Wir betrachten auf dem Spielplatz ein Kleinkind, das mit Sand, Wasser und einem Förmchen spielt. In tiefer Versunkenheit schüttet es Wasser aus unterschiedlicher Höhe in den Sand; das Wasser spritzt und platscht, es versickert, es macht kleine Löcher in den Sand, verfärbt ihn, macht ihn matschig und schwer, der Sand wird kalt, fest und formbar… Alle Sinne sind angesprochen: Der Tastsinn ist gefordert, wenn das Kind den trockenen Sand durch die Finger rieseln lässt, im Matsch knetet und formt; der kinästhetische Sinn ist angesprochen, wenn es bemerkt, wie durch Hinzufügen von Wasser der Sand immer schwerer wird; das visuelle Sinnessystem ist aktiviert bei der Beobachtung, wie sich der dunkle Fleck immer weiter ausbreitet und die Tropfen auf dem mit Wasser gesättigten Sand hüpfen; akus­tisch erlebt das Kind die unterschiedlichen Geräusche des fließenden oder tropfenden Wassers; und manchmal wird der Matsch auch mal in den Mund gesteckt. Erfahrungen aus erster Hand, die zum weiteren Experimen­tieren, Forschen, Handeln und Gestalten anregen.
Die Erlebnisqualität solch sinn-vollen Handelns verursacht tiefe Erkenntnis beim Kind und verankert das dabei Gelernte anhaltend im Gehirn. „Je mehr Wahrnehmungsfelder im Gehirn beteiligt sind, desto mehr Assozia­tionsmöglichkeiten für das tiefere Verständnis werden vorgefunden, desto größer werden Aufmerksamkeit und Lernmotivation.“3 Selbstbestimmung und Freiwilligkeit sind wichtige Voraussetzungen, um ein solches Lernen zu ermöglichen; wir können ein Sich-Versenken nicht lehren, Besinnung nicht verordnen, sehr wohl aber können wir uns um eine derart gestaltete Umgebung bemühen, die dem Kind die Möglichkeit bietet, mit allen Sinnen wahrzunehmen und eigene Wege für seinen persönlichen Ausdruck zu finden.

Bedingungen zum ­Musikhören

Wir können unsere Ohren nicht einfach verschließen wie unsere Augen. Alles strömt auf uns ein und muss nach Wichtigkeit und Bedeutung unterschieden und verarbeitet werden. Um auf akustische Signale angemessen reagieren zu können, ist es notwendig, wichtige Reize aus dem Gesamtklang der Umgebung herauszufiltern (Figur-Grund-Wahrnehmung). „Die auditive Wahrnehmungs­fähigkeit eines Kindes ist sowohl von seiner Aufmerksamkeit als auch von der Fähigkeit, Reize zu unterscheiden, zu lokalisieren und in einen Bedeutungszusammen­hang zu bringen, abhängig.“4
So bedeutsam eine intakte physiologische Funktion des auditiven Sinnes als Grundvo­raussetzung zum Musikhören ist, so wichtig müssen wir als MusikpädagogInnen auch die subjektive Disposition der Hörenden nehmen. Zu schnell gehen wir davon aus, dass Wahrnehmung objektivierbar „stattfindet“, und laufen Gefahr, die dazu notwendige Sensibilisierung zu vergessen. Das bewusste Lauschen auf einen Klang als Erlebnis zu gestalten oder Momente der Stille als Ritual zu zelebrieren, kann dazu führen, dass Kinder den eigenen Wunsch nach Ruhe zulassen und auch äußern können. So wie wir beim Malen am liebsten auf einem weißen Blatt Papier beginnen, so selbstverständlich soll es für die Kinder werden, dass bewusstes Hören aus der Stille beginnt.

1 Michaele Furgber: Auditive Wahrnehmungsdifferenzierung durch Musikhören in Bewegung. Ein Beitrag zum kindlichen Musikerleben im musikalisch-bewegten Grundschulunterricht, Weingarten 2002, S. 9.
2 ebd.
3 Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen, München 1992, S. 142.
4 Renate Zimmer: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung, Freiburg 1995, S. 87.

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