Krebs, Matthias

Gemeinsam online Musik machen

Möglichkeiten zum Musizieren und zur kollaborativen Musikproduktion über Distanz (Teil 2)

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 6/2020 , Seite 41

In diesem Beitrag wird eine Typisierung anhand von knapp 40 verschiedenen Online-Musikplattformen vorgestellt, die dazu verwendet werden können, mit anderen Menschen über das Internet musikalisch in unterschiedlicher Weise in Interaktion zu treten.

Alle untersuchten Online-Musikplattformen zeichnet aus, dass die Beziehungen innerhalb von Nutzergruppen höchste Prio­rität haben. Der Aufbau von Beziehungen zwischen Menschen über das Netz ist dabei eng mit aktiver Musikausübung verbunden, wobei die musikalischen Vorlieben der Beteiligten als Ausgangspunkt genommen werden. Einige Plattformen scheinen einen spontanen Einstieg zu ermöglichen, andere werden eher in professionelle Kontexte integriert. Dabei setzen viele User von Musikplattformen im Allgemeinen traditionelle Kriterien an die entstehende Musik im digitalen Raum an und nutzen das Netz pragmatisch. Gewohnte musikalische Handlungsweisen wie Proben und Jams sowie die Verwendung von Notationsprogrammen und Musikstudio-Anwendungen, werden hierbei (versuchsweise) auf das Medium Internet übertragen.

Alle untersuchten Online-Musikplattformen wurden in einem Blog-Beitrag zusammengetragen und werden dort klassifiziert, verlinkt und mit einem Video kurz vorgestellt. Diese Darstellungsform bietet einen breiten Überblick sowie die Möglichkeit, einen ersten Eindruck von der jeweiligen Plattform zu gewinnen:
www.forschungsstelle.appmusik.de/gemeinsam-online-musizieren

In Kommentaren und Rezensionen thematisieren selbst erfahrene MusikerInnen Hürden in der technischen Gestaltung der zwischenmenschlichen Interaktion auf den Plattformen. Außerdem zeigt sich in Workshops, dass die Nutzung auch für technisch versierte Jugendliche ungewohnt ist und die Technologien von ihnen erst angeeignet werden müssen. Die Erwartung „Es ist dasselbe, nur online!“ entpuppt sich in der Praxis als Trugschluss. Das hat Konsequenzen:
1. Die Befürchtung, Online-Musikplattformen könnten Präsenzunterricht oder gemeinsame Studiomeetings gleichwertig ersetzen, wird als eine hohle sowie unnötige Phrase entlarvt. Es werden Äpfel mit Birnen verglichen.
2. Herkömmliche Methoden einfach auf den Onlinebereich zu übertragen, ist fragwürdig. Alternative Methoden müssen ent­wickelt werden, will man effektiv künstlerisch und pädagogisch tätig sein. Wobei vordergründig die Bedingungen zur Interaktion ein Umdenken erfordern. Das Musikwissen, bezogen auf musikalische und spieltechnische Grundfragen, scheint zunächst weniger auffällig vom Medium beeinflusst zu sein.
Um die Besonderheiten von Netzmedien besser verstehen zu können, lohnt es, sich von der weit verbreiteten Auffassung zu verabschieden, dass solche Netzmedien, wie sie hier vorgestellt werden, als Tools oder Werkzeuge zu verstehen sind. Online-Plattformen sind mehr als ein neutrales Mittel zum Zweck. Vielmehr fungieren sie als Vermittlerinnen, die die Bedingungen und den Prozess der Musikgestaltung (mit)prägen.1 So wird in der Medientheorie hervorgehoben, dass das Medium stets eine starke konstitutive Leistung für den Prozess, das Produkt und die gegenseitige Wahrnehmung vollbringt.2
Das Internet ist demnach als ein eigenständiger, virtueller Raum zu betrachten, in dem nicht allein Alltägliches abgebildet wird. In ihm verbreiten sich Klang, Sichtbares und körperliche Interaktion anders als im physischen Raum. Es herrschen Gesetze, deren Wirkung sich nicht einfach aus der Bedienung von Interfaces ergibt. Wer Möglichkeiten zum Musizieren über Distanz nutzen will, muss daher gewillt sein, sich auf einen Forschungsprozess einzulassen und sich die digitale Welt Stück für Stück „bewohnbar“ zu machen.

Typisierung

Die Auswahl der betrachteten Formen und konkreten Beispiele an Online-Musikplattformen der breit angelegten Untersuchung geschah unabhängig davon, ob sie sich popmusikalischen Genres, experimenteller Musik oder der klassischen Kunstmusik zuordnen lassen, und unabhängig von Qualitätsurteilen. Als zentrale Auswahlkriterien der analysierten Online-Musikplattformen3 fungierten zwei Aspekte:
1. Die Rolle des Internets für die kollaborative Interaktion zwischen den Beteiligten geht über das Versenden (z. B. per Mail oder Dropbox) oder Verfügbarmachen von Dateien in Archiven (z. B. Podcast- und Notensammlungen zum Download) hinaus.
2. Es haben sich Strukturen etabliert, die von mehreren Personen dazu verwendet werden, dialogisch miteinander zu inter­agieren.
Damit wurden Anwendungen wie Chrome Music Lab oder Groove Pizza von der Untersuchung ausgeschlossen, da sie zwar interaktiv im Browser zum Musikmachen genutzt werden können, jedoch keine Möglichkeiten zur gemeinsamen Nutzung bieten. Es stehen vielmehr Webseiten im Fokus, die Bedingungen zur Verfügung stellen, welche die Herstellung und Pflege von Beziehungen innerhalb von Nutzergruppen ermöglichen, um kollaborativ-dialogisch in Austausch zu treten.
Die im Folgenden dargestellte Typisierung orientiert sich in der Unterscheidung der jeweiligen Ausprägung an grundlegenden musikalischen Praktiken, die sich im Netz auffinden lassen. Sie geht von vier Grundtypen musikbezogener Praktiken im Netz aus, die auf Kollaboration ausgerichtet sind. Die zwei Typen der Nutzung von Online-Musikplattformen zum gemeinsamen Musizieren („Das Netz als Proberaum“) und zum synchronisierten Musik-Erleben („Das Netz als Konzert-Bühne“) wurden bereits in der vorigen Ausgabe dieser Zeitschrift vorgestellt.

3. Das Netz als Produktionstool – Kollaboratives Musikmachen

Von den beiden ersten Formen musikalischer Praxis im Netz, bei denen direkt aufeinander bezogene Interaktionen im Hier und Jetzt von zentraler Bedeutung sind, sind Produktionstools zu unterscheiden, die kollaborative Formen ermöglichen und asynchron – also zeitlich unabhängig voneinander – stattfinden können. Anstatt einer vollzugsorientierten Interaktion steht bei den Vertretern des dritten und vierten Typs eine dialogische Bezugnahme im Vordergrund, die in erster Linie symbolisch vermittelt ist (z. B. in Form von Noten, Sequenzer-Spuren oder Text).
Diese Form der kollaborativen Entwicklung von Musikstücken meint die Anfertigung einer Komposition mit dem Ergebnis einer Partitur, aber auch das Produzieren von instrumentalen Tracks und Songs – z. B. im Studio mittels einer DAW-Software – mit einer Aufnahme als Ergebnis. Im Unterschied zum verbreiteten Bild des einsamen Komponisten oder der einsamen Home-Studio-Produzentin, haben sich im Netz spezifische Praktiken entwickelt, die unter dem Begriff „Collabs“ firmieren. Als Kollaborationsplattform werden häufig Foren wie fawm.org oder Webseiten wie Kompoz genutzt. Dabei werden über das Internet Aufnahmen, Mixe, Noten, Texte, Videoschnitte und anderes musikalisches Material verschickt, wodurch kompositorische Ergänzung, Musikaufnahmen sowie zyklische Überarbeitungsschleifen des gemeinsamen Materials mit vielen Beteiligten unternommen werden können. Bei dieser Form der Kollaboration kann es jedoch sehr aufwendig werden, wenn parallel am Projekt gearbeitet wird und Projekt-Iterationen, die in verschiedenen lokalen Studios parallel entstanden sind, zusammengeführt werden müssen.
Eine modernere Herangehensweise bieten Online-Plattformen wie BandLab, die eine Studio-Umgebung (bestehend aus z. B. Sequenzer, Sample-Library, Effektgeräten und Softwareinstrumenten) anbieten, um direkt im Netz produktiv zu werden – wodurch das Netz zur Werkstatt wird.4 Auch Notationssoftware zum Komponieren ist als Online-Variante verfügbar (z. B. Noteflight und Flat.io), auf die über den Browser zugegriffen werden kann. Alle Projektdateien und selbst die Tonaufnahmen bleiben im Netz, wodurch sie an jedem Gerät aufgerufen werden können und darüber hinaus der Zugriff für einzelne Profile oder Gruppen gewährt werden kann.
Bei solchen Musikplattformen können dialogische Prozesse bei Komposition und Produktion ein anderes Gewicht erhalten als bei Arbeitsweisen, bei denen einzelne Aufnahmen oder (Projekt-)Dateien hin- und hergesendet werden. Kollaborateure können einerseits für sich Material für das gemeinsame Projekt erstellen. Andererseits können, indem der kollaborative Prozess direkt im Netz stattfindet, die Zwischenergebnisse für andere zur Inspiration einsehbar gemacht werden. Alle Projektbeteiligten können mit dem aktuell verfügbaren Material jeweils eigene Interpretationen entwickeln, die wiederum aufgegriffen, kommentiert und weiterentwickelt werden können.

4. Das Netz als Forum – Sich sprachlich austauschen

Die vierte Form musikalischer Praxis im Netz, die auf Kollaboration ausgerichtet ist, stellt den sprachlichen Austausch (als Text, als Sprachaufnahme oder als Videoantwort) ins Zentrum und ist in Internetforen und in Kommentarbereichen von Musikblogs zu finden. In Foren wie musiktreff.info, dem größten deutschsprachigen Blasmusikforum, wird sich beispielsweise über Spieltechniken ausgetauscht und über Hardware und Musikaufnahmen diskutiert. Die Partizipation erfolgt thematisch gebunden, worauf zeitlich versetzt Bezugnahmen stattfinden. Ich möchte in der Typisierung auch solche musikbezogenen Praktiken in die Systematik dieses Beitrags mit aufnehmen, da der Austausch mit anderen Usern in Form von Feedback bis hin zu intensiv geführten Diskussionen die Musikausübung entscheidend mitbestimmt und ein Bestandteil des Lernens sein kann.5
Auch solche Social-Media-Plattformen können dazugezählt werden, die auf dem Prinzip des „user-generated content“ basieren, wie etwa YouTube oder ultimate-guitar.com. Häufig sind die hochgeladenen Noten, Videos, Podcasts oder Fotos ein Ausgangspunkt, woraus Diskussionen im Kommentarbereich erwachsen.6

Vergleichende Betrachtung

Es muss darauf hingewiesen werden, dass einige Musikplattformen mehreren dieser vier idealtypisch voneinander unterschiedenen Typen zugeordnet werden können. So wird etwa YouTube zum Livestream genutzt, wobei die aktuelle Übertragung via Chat von Zuschauenden live kommentiert werden kann (Typ 2). Ein solcher Beitrag kann anschließend aber auch als fixes YouTube-Video veröffentlicht und nachträglich kommentiert werden (Typ 4).
Dieser Fall zeigt, dass mit der vorgenommenen Typisierung die Nutzungsweise einer Plattform und nicht eine generelle technische Spezifikation beschrieben wird. Auch über dieses Beispiel hinaus lassen sich relativ einfach weitere Musikplattformen finden, deren Nutzungsweisen nicht eindeutig einem Typus zurechenbar sind. Die Beispiele machen deutlich, dass eine sinnvolle Unterscheidung verschiedener Technologien, die der Orientierung und systematischen Untersuchung dienen soll, im Gegensatz zu einer rein funktionstechnischen Bestimmung immer anhand ihrer Gebrauchsweisen erfolgen muss. Denn auch wenn der Möglichkeitsraum eines musikalischen Interaktionskontextes im Netz (durch Design und Funktionalität der Online-Plattform) im Sinne medientechnischer Bedingungen definiert ist, erfahren die Online-Musikplattformen erst in der Etablierung kultureller Praktiken ihre Konkretisierung.7 So sind rein auf die Technologie beschränkte Klassifizierungen nur eingeschränkt aussagekräftig, da Funktionen unterschiedlichen Interpretationen unterliegen und solche Klassifizierungen der möglichen Vielfalt nicht gerecht werden.8

Synergien

Für MusikerInnen können die im Zusammenhang dieses zweiteiligen Beitrags und des dazugehörigen Blogbeitrags vorgestellten und typisierten Musikplattformen eine Bandbreite an Perspektiven für die methodische Gestaltung künstlerischer und pädagogischer Projekte bieten. Jedoch sollten die einzelnen Beispiele nicht isoliert betrachtet werden. Weitere Potenziale stecken in ihrer parallelen und ergänzenden Verwendung, sodass Synergieeffekte entstehen.
– So können z. B. zwei MusikerInnen, die über das Internet zusammen Klavier im Duo spielen wollen, Skype zur sprachlichen und gestischen Kommunikation (Typ 1) und die Musikplattform multiplayerpiano zum verzögerungsarmen Musizieren (Typ 1) parallel verwenden.
– Auch wird die Konferenz-Plattform Discord (Typ 1) in Kombination mit einer Plattform wie SoundTrap zur gemeinsamen Musikproduktion (Typ 3) genutzt. In dieser Kombination kann man per geteiltem Bildschirm synchron gemeinsam an einer Produktion arbeiten, Musik analysieren oder sich über Effektgerät-Einstellungen unterhalten.
Wie anhand dieser wenigen Beispiele deutlich wird, eröffnen sich durch die parallele Verwendung verschiedener Online-Plattformen eine ganze Reihe weiterer Möglichkeiten, gemeinsam (dialogisch) musikalisch tätig zu werden. Darüber hinaus wurde aufgezeigt, dass Technologien nicht auf einzelne Programmfunktionen verkürzt und isoliert auf die Bedienung betrachtet werden können. Die verschiedenen Beispiele sind vielmehr als künstlerische Erkundungen zu verstehen, neue Technologien nutzbar zu machen und kreativ zu verorten. Virtuelle Räume werden immer mehr mit physischen Räumen verbunden. Die untersuchten Online-Musikplattformen bieten dafür virtuelle Umgebungen, die es ermöglichen, dass man auf neue Art an einem sozialen Ereignis teilnehmen kann, um auch über Distanz mit anderen musikalische Beziehungen zu formen.

1 vgl. Golo Föllmer: Netzmusik. Elektronische, ästhetische und soziale Strukturen einer partizi­pativen Musik, Hofheim 2005, S. 203.
2 vgl. Georg C. Tholen: „Medium, Medien“, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grund­begriffe der Medientheorie, Stuttgart 2005,
S. 150-172.
3 Auf die detaillierte Darstellung der empirischen Methode zur Qualifizierung der vier Typen wird in diesem Beitrag verzichtet.
4 Matthias Krebs: „Musikmachen im Web 2.0. Neue Möglichkeiten, gemeinsam im Internet zu musi­zieren“, in: üben & musizieren 5/2010, S. 18-22.
5 vgl. Matthias Krebs/Marc Godau: „Unrichtiger Unterricht. Musiklernen via YouTube“, in: Musik­forum 2/2015, S. 28-31.
6 Von vielen KünstlerInnen und Musikschulen wird diese Dialogmöglichkeit noch kaum beachtet.
7 vgl. Föllmer, S. 11.
8 vgl. Werner Rammert: Technik – Handeln –Wis­sen. Wie Technik die Gesellschaft verändert, Wies­baden 2016, S. 69.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2020.

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