Krebs, Matthias

Gemeinsam online Musik machen

Möglichkeiten zum Musizieren und zur kollaborativen Musikproduktion über Distanz (Teil 1)

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 5/2020 , Seite 39

In diesem Beitrag wird eine Typisierung anhand von knapp 40 verschiedenen Online-Musikplattformen vorgestellt, die dazu verwendet werden können, mit anderen Menschen über das Internet musikalisch in unterschiedlicher Weise in Interaktion zu treten.

Für viele Menschen ist es ein starkes Bedürfnis, regelmäßig mit anderen Menschen in einen aktiven musikalischen Austausch zu kommen. Im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gewannen Ansätze an Aufmerksamkeit, die es ermöglichen, das Internet als sozial verbindendes Medium zu nutzen. Die Vielzahl an Ansätzen zum Online-Musizieren, zum Aufführen, zur kollaborativen Musikproduktion und zum Diskutieren unterscheiden sich hinsichtlich des kreativ-gestalterischen Handlungsspielraums und in der Form, wie User miteinander in Beziehung treten können.
Auf verschiedenen Webseiten und Blogs gibt es bereits Listen und Übersichten zu Möglichkeiten, das Internet musikbezogen zu nutzen. Doch erscheinen diese durch die große Bandbreite an unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten der aufgeführten Beispiele häufig unübersichtlich und beliebig. In diesem Beitrag geht es daher darum, eine Systematik bzw. Typisierung zu entfalten, die dabei helfen soll, sich innerhalb der Vielzahl an Optionen, gemeinsam mit anderen online Musik zu machen, zu orientieren. Ergänzt wird dieser Zeitschriften-Beitrag durch einen Blog-Beitrag, in dem eine breite Sammlung an Online-Plattformen – denen die hier vorgestellte Typisierung zugrunde liegt – strukturiert und mit entsprechenden Links sowie illustrierenden Videos vorgestellt wird.1

Alle untersuchten Online-Musikplattformen wurden in einem Blog-Beitrag zusammengetragen und werden dort klassifiziert, verlinkt und mit einem Video kurz vorgestellt. Diese Darstellungsform bietet einen breiten Überblick sowie die Möglichkeit, einen ersten Eindruck von der jeweiligen Plattform zu gewinnen:
www.forschungsstelle.appmusik.de/gemeinsam-online-musizieren

Bei den untersuchten Fallbeispielen wird das Internet nicht allein als Übertragungsmittel und Speicher genutzt. Die Webseiten stellen vielmehr Strukturen zur Verfügung, die als „Plattform“ dienen. Das heißt, es handelt sich um Netzanwendungen, vergleichbar mit Programmen, die vormals lokal auf einem Rechner installiert werden mussten. Damit können User direkt über einen Browser produktiv werden, wodurch die Verwendung auch unabhängig davon ist, welches Betriebssystem genutzt wird und ob man zu Hause, in der Schule, im Büro, im Studio oder sogar unterwegs arbeitet.2 Das Plattformprinzip schafft darüber hinaus aber auch fruchtbare Bedingungen für Kollaborationen, um zusammen mit anderen Menschen in Interaktion zu treten. Auf dieser Basis haben sich mittlerweile vielfältige Formen vernetzter Musikausübung in diversen musikalischen Genres entwickelt. Die Online-Musikplattformen werden dabei nicht allein für professionelle Zwecke und Kunstprojekte genutzt, sondern auf Grundlage ihrer Zugänglichkeit und Verbreitung als zum Teil kostenlose Varianten auch zunehmend in musikpädagogische Kontexte eingebunden.
Meine Hoffnung ist, dass dieser Beitrag neue Perspektiven aufzeigt und LeserInnen dabei unterstützt und inspiriert, auf künstlerische Weise die spezifische Ästhetik digitalisierter Formen des Musikmachens zu erkunden. Dafür lohnt es, sich auf das Spezifische des Digitalen einzulassen, das gemeinsame Handeln zu reflektieren und erste Ergebnisse nicht vorschnell in einen direkten Vergleich mit lange Gewohntem zu führen.

Typisierung

Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Online-Musizieren“ folgt der These, dass gemeinsames Musikmachen „im Netz anderen Bedingungen unterliegt als in herkömmlichen [analogen] musikalischen Produktions-, Darbietungs- und Rezeptionszusammenhängen“.3 Bevor diese spezifischen Bedingungen näher betrachtet werden, wird zum Einstieg eine Typisierung von Online-Musikplattformen vorgenommen, die sich aus der Analyse von knapp 40 Plattformen ergibt. Aufgrund der großen Bandbreite des Untersuchungsbereichs und da bislang noch keine Klassifizierung existiert, ging diesem Beitrag eine Art Feldforschung voraus. Im ersten Schritt galt es, die zu erfassenden Phänomene näher zu definieren, um auf dieser Grundlage das Untersuchungsfeld abzustecken, worauf induktiv aus den Einzelanalysen eine Typisierung entwickelt wurde.
Ausgangspunkt für die im Folgenden dargestellte Unterscheidung von Online-Musikplattformen sind folgende Fragen:
– Welche unterschiedlichen Handlungsweisen lassen sich im Netz finden, um gemeinsam mit anderen musikalische Prozesse zu realisieren?
– Wie gestaltet sich die klang- und musikbezogene Interaktion zwischen Beteiligten?
Es geht also um die Differenzierung spezifischer Handlungsformen in der Musikausübung sowie um die Unterscheidung charakteristischer Interaktionsformen auf Online-Plattformen, die es ermöglichen, dass mehrere Menschen an gemeinsamen Projekten im Dialog beteiligt sind. Grundlage dafür sind virtuelle Interaktionsräume, die auf den Musikplattformen unterschiedlich realisiert sind und NutzerInnen ermöglichen, dialogisch zu interagieren: sprachlich, akustisch, visuell und gestisch gesteuert. Dabei setzt Dialog voraus, dass die Beteiligten in eine Beziehung treten wollen, und äußert sich als ein Wechselspiel von Verhaltensabsichten.
Die im Folgenden näher erläuterte Typisierung von Online-Musikplattformen, die sich zum gemeinschaftlichen Musikmachen eignen, beschreibt vier Grundtypen kultureller Praktiken im Netz, die auf Kollaboration ausgerichtet sind: gemeinsames Musizieren, synchronisiertes Musik-Erleben, kollaboratives kompositionsorientiertes Mu­sik­machen und über Musikmachen Diskutieren. Zum leichteren Verständnis werden die Typen mit charakteristischen Metaphern aus der herkömmlichen Erfahrungswelt bezeichnet:
1. Das Netz als Proberaum
2. Das Netz als Konzert-Bühne
3. Das Netz als geteiltes Produk­tionstool
4. Das Netz als Forum
Die Zuordnung von Musikplattformen zu diesen Typen soll den Vergleich untereinander ermöglichen. Gleichzeitig soll die Systematik auch dabei unterstützen, sich zu orientieren, um Online-Plattformen zielführender nutzen und neue Web-Funde leichter einordnen zu können.

1. Das Netz als Proberaum – Gemeinsames Musizieren

Wenn MusikerInnen in dieser Zeit des „physical distancing“ über technische Möglichkeiten gemeinsam Musik zu machen sprechen, verbinden viele damit den Wunsch nach Lösungen, die eine Musikausübung ermöglichen, die vergleichbar ist mit Rockband-Proben im Probenraum, mit dem Mitsingen in einer Vokalgruppe oder mit dem Spielen in einem Streichquartett vor Ort. Solche Formen der Musikausübung an einem physischen Ort möchte ich als „Gemeinsames Musizieren“ klassifizieren.
Sie lassen sich als eine besondere Form der zwischenmenschlichen Interaktion fassen, die als nonverbales, kommunikatives Handeln begriffen werden können und sich als ein „wechselseitiges Sich-aufeinander-Einstimmen“4 vollziehen, wie es der Soziologe Alfred Schütz beschreibt. Von zentraler Bedeutung für das Musizieren ist also eine körperbezogene Synchronisierung der am Musizierprozess Beteiligten, ein interpersonales Koordinieren.5 Es bedeutet einen Wechsel von Führen und Folgen,6 wobei der Prozess durch eine leiblich-körperliche „Beziehungsnahme“ zum Instrument und zwischen den Beteiligten charakterisiert ist.7
Solche Formen des gemeinsamen musika­lischen Handelns stellen für den Einbezug digitaler Netztechnologien zum Musik machen über Distanz eine große technische Herausforderung dar. Immerhin besteht die höchst anspruchsvolle Anforderung, dass sich Musizierende in virtualisierter Form möglichst so gegenseitig wahrnehmen und sich auch wahrgenommen fühlen, als würden sie am selben Ort miteinander inter­agieren – sie müssen also praktisch an mehreren Orten gleichzeitig sein. Wenn das Netz als Interaktionsmedium zum gemeinsamen Musizieren genutzt wird, spielt Zeit bekanntlich eine kritische Rolle: Die digitale Audio- und Videoverarbeitung und der Datentransfer müssen dann in Echtzeit geschehen. Gebräuchliche Video-Chat-Anwendungen wie Skype oder Zoom eignen sich für Formen des gemeinsamen Musizierens kaum: Via Kamera, Mikrofon und Bildschirm fällt die erforderliche Feinabstimmung zwischen den Beteiligten neben der Zeitverzögerung auch aufgrund der begrenzten Möglichkeiten der auditiven und visuellen Wahrnehmung der Mitspielenden schwer.
Den gebräuchlichen Konferenzsystemen stehen Expertensysteme gegenüber, welche die Latenz minimieren und eine bessere Audioqualität bereitstellen. Schon 2008 waren z. B. mit jamLINK und eJamming Plattformen verfügbar, die für sehr geringe Verzögerungen bei audiovisuellen Verbindungen optimiert waren. Jedoch wurden diese Ansätze bislang nicht der Anforderung gerecht, eine ressourcenschonende und technisch niedrigschwellige Lösung für die breite Allgemeinheit zu bieten. So wurde der Betrieb einiger vielversprechender Vertreter schließlich eingestellt. Im Zuge der Corona-Maßnahmen erhalten solche optimierten Systeme nun große Aufmerksamkeit. So erfährt das Open-Source-Projekt digital stage aktuell breite Beachtung und institutionelle Unterstützung.8
Doch sind audiovisuelle Konferenzsysteme nicht die einzigen Ansätze, die gemeinsames Musizieren über das Internet ermöglichen. Alternative technische Ansätze zum Online-Musizieren können mit populären Multiplayer-Games wie Dota 2, World of Warcraft und Fortnite verglichen werden, die über das Internet gemeinsam bzw. gegeneinander gespielt werden. Die für das Echtzeit-Game-Play notwendige ultra-geringe Verzögerung zwischen den verschiedenen Rechnern wird dadurch ermöglicht, dass anstatt umfangreicher audiovisueller Daten marginale Steuerdatenmengen zwischen den beteiligten Rechnern ausgetauscht werden. Die an den verschiedenen Standorten ausgegebenen Klänge und grafischen Repräsentationen der Bewegungen der SpielerInnen werden nicht audiovisuell übertragen, sondern jeweils auf den lokalen Rechnern anhand der übermittelten Steuerdaten berechnet.
Bei Online-Musikplattformen, die zur Ermöglichung einer zeitkritischen Interaktion allein Steuer­daten übertragen, wird häufig der Browser zum Spielinterface und gleichzeitig zur Visualisierung der dialogischen Interaktion verwendet. Zur Toneingabe und Klangmodulation dienen der Touch­screen oder Maus und Tastatur. Bei einigen dieser Musikanwendungen können dafür aber auch spezielle Musikinterfaces wie MIDI-Keyboards (z. B. mittels Web MIDI) genutzt werden, wie das Beispiel www.mul­tiplayerpiano.com zeigt.

2. Das Netz als Konzert-Bühne – Synchronisiertes Musik-Erleben

In der Zeit vor der starken Durchdringung des Alltags durch das Internet waren mediale Formen, die zeitlich synchron ein besonderes Ereignis einem großen, verteilten Publikum verfügbar machten, dominierender. Die vorherrschenden Technologien dafür waren analoge Radio- und Fernsehübertragungen. Die Digitalisierung dieser Technologien wird darin wahrnehmbar, dass z. B. bei Übertragungen von Weltmeisterschaftsspielen einzelne Tore in den verschiedenen Fernsehern der Cafés auf einer Straße asynchron, um einige Sekunden versetzt, fallen – was ein gemeinschaftsförderndes, synchronisiertes Erleben des Pub­likums mindert.
Im Unterschied zu analogen Übertragungssystemen können bei modernen digitalen Netztechnologien jedoch auch Möglichkeiten genutzt werden, jedem Empfänger einen Rückkanal anzubieten (beispielsweise in Form eines Chats oder von Blogkommentaren), was – im Unterschied zu Radio und Fernsehen – eine dialogische Interak­tion mit den AnbieterInnen und zwischen den Konsumierenden ermöglicht.9
Die hohe Nachfrage nach Möglichkeiten synchronisierten Musik-Erlebens wie etwa bei einem Konzertbesuch scheint aber auch im Netzzeitalter ungebrochen. So werden mehr und mehr Online-Plattformen populär, die es ermöglichen, Live-Events und vorproduzierte Inhalte über das Internet simultan mit anderen zu rezipieren. Beispiele für Plattformen zum gemeinsamen Musikgenuss sind Watch-Partys bei Facebook sowie die neue Funktion Gruppen-Sessions bei Spotify. Eine besondere Popularität genießen derzeit Video-Streaming-Plattformen wie Twitch, die sich an ein öffentliches Massenpublikum richten. Daneben existieren aber auch verschiedene Lösungen für den exklusiven oder privaten Gebrauch wie die Möglichkeit, über Zoom Konzerten beizuwohnen bzw. zu veranstalten. Zentral sind bei all diesen Plattformen bestimmte Funktionalitäten zur Interaktion, wodurch der Effekt einer virtuellen Anwesenheit erzeugt werden kann. Dazu sind z. B. Text-Chats gebräuchlich oder aber die Darstellung von kleinen Webcam-Bildern der Zuschauenden, um ein Gefühl von Gemeinsamkeit zu bewirken. Präsenz drückt sich hierbei nicht mehr durch Gleichzeitigkeit am selben Ort aus, sondern durch Möglichkeiten zur Partizipa­tion.

Die beiden weiteren Grundtypen kultureller Praktiken im Netz zum (3.) kollaborativen kompo­si­tionsorientierten Musikmachen und (4.) diskur­siven Musikaustausch werden im Folgebeitrag der nächsten Ausgabe beschrieben.

1 Durch die offene Form eines Blog-Beitrags kann die erste Beispielsammlung mit Unterstützung von interessierten Usern gemeinschaftlich im Sinne einer kollek­tiven Sammlung regelmäßig aktualisiert werden. Darüber hinaus bietet sich über Kommentare auch ein Erfahrungsaustausch an.
2 Matthias Krebs: „Musikmachen im Web 2.0. Neue Möglichkeiten, gemeinsam im Internet zu musi­zieren“, in: üben & musizieren 5/2010, S. 18-22.
3 Golo Föllmer: Netzmusik. Elektronische, ästhetische und soziale Strukturen einer partizipativen Musik, Hofheim 2005, S. 4.
4 Alfred Schütz: „Gemeinsam Musizieren“, in: Gesammelte Aufsätze, Band 2, Den Haag 1972, S. 129-150, hier: S. 149.
5 Maria B. Spychiger: „Musiklernen als Ko-Konst­ruktion? Überlegungen zum Verhältnis individueller und sozialer Dimensionen musikbezogener Er­fahrungen als Lernprozesse“, in: Diskussion Musik­pädagogik, 2008 (40), S. 4-12.
6 Robert Gugutzer: „Soziologie am Leitfaden des Leibes. Zur Neophänomenologie sozialen Handelns am Beispiel der Contact Improvisation“, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.): Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen, Bielefeld 2010, S. 165-184.
7 Matthias Krebs: „Wenn die App zum Musizierpartner wird. Eine Annäherung an die Besonderheiten technologievermittelten Musizierens am Beispiel der Musikapp PlayGround“, in: Heiner Gembris/Jonas Menze/Andreas Heye (Hg.): Jugend musiziert – musikkulturelle Vielfalt im Diskurs
(= Schriften des Instituts für Begabungsforschung in der Musik, Bd. 12), Münster 2019, S. 235-282.
8 https://digital-stage.org
9 vgl. Föllmer, S.20 f.

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