Miriam Struncius

Geschlechterunterschiede

– eine vernachlässigte Dimension im Unterrichtsbereich Kinderstunde?

Rubrik: Werkstatt
erschienen in: üben & musizieren 5/2002 , Seite 61

Gibt es Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen? Ist die Erziehung der Kinder oder sind die Gene ausschlaggebend? Haben mögliche Geschlechterunterschiede eine Bedeutung für den koedukativ geprägten Unterricht? Diese Fragen entstanden im Unterricht mit Kindern und bewogen mich dazu, das Thema meiner Diplomarbeit in den komplexen Geschlechterkontext zu setzen.

Zunächst suchte ich vergeblich innerhalb der Rhythmik-Fachliteratur nach einer Erwähnung der Genderthematik, nach dem Aufgreifen möglicher Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen und daraus resultierenden Integrationskonzepten. Obgleich der Musik- und Rhythmikunterricht seit Anbeginn durch die Struktur der Koedukation geprägt ist, bleibt das Thema meines Wissens unberührt.

Um meine Beobachtungen aus dem subjektiven Blickwinkel herauszuheben, konnte ich die Erkenntnisse aus der empirischen Geschlechter- und Koedukationsforschung im Bereich von Kindergärten und Schulen nutzen und eigene Projekte ins Leben rufen, um eine Transfermöglichkeit der wissenschaftlich fundierten Ergebnisse in den Praxisbereich „Kinderstunde“ zu erhalten.

Im Vorfeld meiner Projektplanung bevorzugte ich den so genannten Sozialisationsansatz, welcher die psychologischen Theorien zur Entwicklung von Geschlechterunterschieden beinhaltet. Für uns als PädagogInnen ist die Ebene der sozialisationsbedingten Geschlechterunterschiede in ihrer Veränderlichkeit bedeutsamer als die „genetische Vorprogrammierung“, an der wir im Unterricht nicht ansetzen können. Ich entwickelte die Hypothese, dass Rhythmik als pädagogisches Konzept für den Unterrichtsbereich „Kinderstunde“ sowohl geschlechterdifferenziell als auch geschlechterintegrierend sein muss. Hier ist nicht gemeint, dass die Kinder in stereotype Rollenklischees unterteilt werden, vielmehr geht es bei den Unterschieden zwischen den Geschlechtern um mögliche Tendenzen, die wir im Unterricht nicht hervorheben sollten, um die zu wissen aber sehr wertvoll für die Lehrperson und deren Handeln gegenüber den einzelnen Gruppenmitgliedern sein kann.

Die Gruppen, mit denen ich in dieser Zeit arbeitete, waren zum einen geschlechterheterogen und mit verschiedenen Altersstufen von drei bis etwa zehn Jahren besetzt. Zum anderen unterrichtete ich zwei Mädchen- und zwei Jungengruppen, jeweils eine Gruppe im Alter von sechs bis neun Jahren und eine Gruppe von zehn bis zwölf Jahren.

Als übergreifendes Thema für die Unterrichtsplanung wählte ich das aus der Geschlechterforschung entlehnte Rollenspiel. Im rhythmisch-musikalischen Arbeitsfeld erstrecken sich Rollenspiele von der Übernahme einer Instrumentalrolle in einer Klanggeschichte über nonverbales Rollenspiel in der Bewegung, bis hin zum Spiel mit Rollenklischees bei den ältesten Kindern (z.B. mehrere Stunden zum Thema Denkmal, klassische und moderne Skulpturen, Partner- und Gruppengestaltungen und anschließende Vertonung der entstandenen Körpergestalten).

Das Rollenspiel erwies sich methodisch und didaktisch als Brücke zwischen den Klischees des Geschlechterthemas und der Polarität „Initiative – Anpassung“* in der Rhythmik im direkten (männlich/weiblich) und im weiteren Sinne (schnell/langsam, stark/schwach, laut/leise etc.). Spannend war, dass die Jüngsten (drei bis vier Jahre) sich in der Praxis noch weitgehend offen und wertfrei in Bezug auf die Übernahme einer geschlechtsspezifischen Rolle zeigten.

Wir erarbeiteten beispielsweise gemeinsam einen Marsch von Kabalewski in der Bewegung. Die Kinder bewegten sich als „Bärenfamilie durch den Wald“, und auf bestimmte Ereignisse in der Musik reagierten sie mit verschiedenen Bewegungsaktionen. Bei den etwas älteren Kindern (fünf bis sechs Jahre) war eine Ablehnung der Jungen gegenüber der Rolle der Bärenmutter sehr deutlich, während die Mädchen tendenziell gern alle Rollen des Spiels übernahmen. In den getrenntgeschlechtlichen Gruppen machte ich die Erfahrung, dass die Mädchen gern starke wie auch sanfte Rollen übernahmen, während die Jungen nur sehr ungern weibliche oder leise Rollen übernahmen. Für die Mädchen war es normal und zugleich fantasieanregend, starke Rollen zu wählen, für die Jungen wirkte es wie eine Herabsetzung im Gruppenstatus und wenig attraktiv eine „unmännliche“, schwache Rolle innezuhaben.

Besonders interessant gestaltete sich der Unterricht mit getrenntgeschlechtlichen Gruppen, auf den ich konkreter eingehen möchte.

Die Mädchen

Die Arbeit mit den beiden Mädchengruppen war gekennzeichnet durch ein großes „Schaffenspensum“. Traten während des Unterrichts Probleme auf, so bewältigten die Mädchen diese eher kooperativ-konstruktiv durch Verbalisieren von Vorschlägen und Wünschen oder durch nonverbales Umlenken der Situation. Wenn Aktionen im Bereich Musik durchgeführt wurden, entstanden kaum Probleme der gemeinsamen Kommunikation während des Spiels (nicht etwa: jeder spielt so schnell und laut wie er kann…) und bei der Erkundung von neuen, auch empfindlichen Instrumenten musste nicht wiederholt zu einem achtsamen Umgang gemahnt werden.

Eigenkörperbetonte, ruhige Stundenphasen konnten eingebaut werden. Die Mädchen waren mit einer entsprechenden Heranführung tendenziell sehr gut in der Lage zur Ruhe zu kommen. Innerhalb der gemeinsamen Stunden gingen wir auf Hörreisen, Reisen in den eigenen Körper oder musikalisch untermalte Fantasiereisen. Jedoch waren auch Musik- und Bewegungsaktionen mit hoher Dynamik sehr beliebt, gestalteten sich aber wenig ruppig oder verletzungsträchtig. Echte „Handgreiflichkeiten“ gab es gar nicht, obgleich die Themen Stärke und Macht in Musik und Bewegung im Partner- und Gruppenbezug bearbeitet wurden, und zwar unter Einbeziehung von eingespielten Musikstücken, eigenen Klanggestaltungen mit dem Orff-Instrumentarium und dem Einsatz von Material (Seile/Stäbe). Mit den Rhythmikmaterialien gingen die Mädchen gern um und machten keinen Unterschied zwischen Tüchern, Seilen, Stäben, Bällen oder Reifen.

Ich kannte einige der Mädchen bereits aus gemischtgeschlechtlichen Gruppen und war begeistert von ihrer Entwicklung in der Mädchengruppe.

Unterricht mit Mädchen war Musik- und Rhythmikunterricht, „wie er im Buche steht“. Die übergeordnete Zieldimension in der Arbeit mit Mädchengruppen wählte ich in der Förderung des Selbstbilds. Teilziele waren Durchsetzungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Einsatz des Körpers, Mut zum Risiko (etwas in die Gruppe einbringen, in der Bewegung etwas wagen).

Die Jungen

„Ey, tanzen tue ich aber nicht… und singen ist echt blöd!“

Der Start des Unterrichtsjahres in den Jungengruppen gestaltete sich schwierig. Vor der ersten Stunde war deutlicher „Kampflärm“ aus Umkleideraum und Flur zu vernehmen. Für die Jungen schien es schwierig zu sein, eine normale Anfangssituation des Unterrichts zu bewältigen (den anderen aussprechen lassen, sagen wie man heißt etc.). Der Lärmpegel in den ersten Stunden war konstant hoch und ich musste meine Vorstellung vom Musik- und Rhythmikunterricht mit Jungen für ein Vierteljahr zur Seite legen. Als die Interessen und gewohnten Aktionsstrukturen der Jungen – möglichst technisch schwieriges Spiel auf dem Instrument, wettkampforientiertes Spiel, Erbringen von körperlich außergewöhnlich hohen Leistungen, körperliche Hochspannung und Bewegungsgeschicklichkeit mit hohem Krafteinsatz – im Unterricht gefordert wurden, verbesserte sich die Situation zunehmend. Über diese gewohnten Handlungsstrukturen ließ sich nun der Weg zu anders gearteten Aktionen innerhalb des Unterrichts ebnen.

Die ersten Stunden brauchten die Jungen ganz offensichtlich zur Bildung einer Gruppenhierarchie – ohne sie war die Welt für die Jungen in Unordnung, beispielsweise waren Partneraktionen unmöglich. Die Gruppenatmosphäre verbesserte sich und es waren neben den anfänglich überwiegend selbst bezogenen Einzelaktionen auch positive, gelungene Partner- und Gruppenerfahrungen möglich.

Die Jungen fanden immer häufiger zur Ruhe, ob im Instrumentalspiel oder in einer Bewegungsaktion. Sie setzten im Umgang mit dem Rhythmikmaterial eindeutige Prioritäten auf die Stäbe, die Bälle und die Reifen. Für die Jungen war das Ritualisieren des Unterrichtsablaufs wichtiger als für die Mädchen. Auffälligkeiten bei den Jungen entstanden häufig aus einem selbst geschaffenen Leistungsdruck, aus der Angst zu versagen oder sich zu blamieren. Am Ende des Jahres war in beiden Jungengruppen eine gute Arbeitsatmosphäre erreicht, aber der Weg dorthin gestaltete sich ungleich schwieriger als bei den Mädchen.

Nach Abschluss der Projektarbeit meine ich, dass aus einem geschlechtsneutralen Konzept heraus – besonders im Unterricht mit älteren Kindern – so manche wohl geplante und mit besten Absichten gewählte Unterrichtseinheit zum Scheitern verurteilt ist.

In meiner Arbeit stellte ich die These auf, dass wir nur oberflächlich gesehen alle Kinder „gleich“ behandeln. Sehr wohl schreiben wir bei genauerem Hinsehen den Mädchen und Jungen geschlechtsspezifische Rollen zu und verhalten uns ihnen gegenüber unterschiedlich.

Die Arbeit mit den getrenntgeschlechtlichen Gruppen brachte wertvolle Anregungen für die Arbeit mit koedukativ geprägten Gruppen, für die ich hier einige Vorschläge zur Beachtung im Unterricht unterbreiten möchte:

– Gleichberechtigte Verteilung von Rede- und Aktionszeit auf beide Geschlechter (empirisch nachgewiesen ist, dass Jungen tendenziell durch auffälligeres Verhalten mehr Aufmerksamkeit erhalten)

– Vermeidung des Einsatzes der Mädchen als Hilfskräfte der Lehrperson aufgrund der tendenziell von ihnen gezeigten sozialen Kompetenz

– Vermeidung des Einsatzes der Mädchen als „Störungspuffer“ zwischen den Jungen

– Richten von Wissensfragen („Wie heißt der Komponist“), wie auch von Erlebnisfragen („Wie hat sich das angefühlt?“) an beide Geschlechter

– Zulassen, Fördern und Ernst nehmen von persönlich-emotionalen Äußerungen auch bei Jungen (vor den Bären in der Bärenmusik des beschriebenen Beispiels hatten über die Jahre, die ich mit diesem Musikstück arbeite, ausschließlich Jungen Angst)

– Bewusste Lied- und Verswahl. In den zahlreichen Stundenvorschlägen für den Musik- und Rhythmikunterricht wird viel mit traditionellem Vers- und Liedgut gearbeitet. Sicher sind die alten Lieder wertvoll hinsichtlich ihrer musikalischen Qualität oder auch ihrer fantasieanregenden Wirkung auf die Kinder, aber sie transportieren meist tradierte Rollenbilder, mit denen seitens der PädagogInnen bewusst umgegangen werden sollte.

Auch wenn wir im Musik- und Rhythmikunterricht keine „Berge zu versetzen“ vermögen, kann in diesem zeitlich begrenzten Rahmen ein Beitrag zur positiven Entwicklung der Kinder unter Beachtung ihres Entwicklungsstands, ihres Alters, ihres sozialen Umfelds und ihres Geschlechts geleistet werden.

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