© Projekt Lebenskunst, Foto: Larissa Braun

Reitinger, Renate

Gesellschaftliche Verantwortung

Future Skills für künftige Berufswege von MusikpädagogInnen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2024 , Seite 08

Der Beruf Musiker/in oder Musik­pädagog/in beinhaltet als zentrales Element die Beschäftigung mit ästhetischen Transformationsprozessen, etwa zwischen Text und Klang, Bild und Bewegung, Musik und Tanz. Inwiefern sind diese Professionen künftig aufge­fordert, ihr Metier auch als Chance für gesellschaftliche Trans­formationsprozesse zu ­verstehen und diese verantwortlich mitzugestalten? Welche Fähigkeiten sind hierfür notwendig und welche Herausforde­rungen zu meistern? Der Beitrag geht diesen und ähnlichen Fragen zur Zukunft der Musikberufe und den zugehörigen Studienstrukturen nach.

In Zeiten disruptiver gesellschaftlicher Veränderungen durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, durch Klimawandel, Krieg und Migration, aber auch durch den quer durch alle Branchen beklagten Fachkräftemangel und eine Verstärkung von Bildungsungerechtigkeiten,1 flammt die Diskussion über den Stellenwert von Berufen als tragende Struktur für das Individuum, die Erwerbstätigkeit und die Gesellschaft zunehmend auf.2 „Der Beruf ist tot“,3 titelte die Berufs- und Wirtschaftspädagogin Rita Meyer im Jahr 2022 und griff damit die Debatte um das Ende der Berufe in ihrer traditionellen Bedeutung für eine sich (vor allem mittels Digitalisierung) rapide wandelnde Gesellschaft auf. In ihren Ausführungen grenzt sie vom Begriff „Beruf“ das Konstrukt der Beruflichkeit ab, das die dahinterliegenden Organisationsprinzipien inklusive der zugehörigen Arbeits- und Qualifizierungsstrukturen beinhaltet und angesichts der komplexer werdenden Anforderungen zum zentralen Gegenstand der Betrachtung werden müsse. Parallel bzw. ersatzweise wird verwiesen auf kurzfristig anpassbare Qualifikationsprofile, z. B. durch Fort- und Weiterbildung, oder die Bedeutung lebenslangen Lernens.
Um demnach die künftigen Berufswege von Musikschullehrkräften, von Instrumental- und GesangspädagogInnen oder MusikvermittlerInnen betrachten zu können, müssen nicht nur deren Tätigkeits- und Aufgabenschwerpunkte bedacht, sondern vielmehr Bezüge hergestellt werden zur Qualität von Bildungs-, Lern- und Arbeitsprozessen, zur sozialen und gesundheitlichen Absicherung sowie zu den politischen und globalen Herausforderungen der heutigen Zeit. Damit einher gehen Fragen nach der sinnbildenden Funktion der musikspezifischen Beruflichkeit als Basis für ein gutes, glückliches Leben und individuelle Entwicklung sowie nach ihrer identitätsstiftenden Funktion, der Bedeutung und Wirkmacht („agency“) der Musikpädagogik in künftigen Gesellschaften und den daraus resultierenden möglichen Professionalisierungsschwerpunkten.

Futures Literacy und 21st Century Skills

Die Entscheidung für einen bestimmten Berufsweg oder ein Studium, aber auch Wahlen für oder gegen bestimmte politische Richtungen, Handlungsalternativen in sozialen Zusammenhängen, in der Partnerschaft o. Ä. treffen wir in der Regel auf der Basis von Wissen und Erfahrungen aus der individuellen und kollektiven Vergangenheit, also bisherigen Lebens- und Lernerfahrungen. In einer Welt voller plötzlicher und umwälzender Entwicklungen, spätestens seit der Corona-Pandemie, erhält zusätzlich die Zukunft – oder besser die möglichen Zukünfte – und die Fähigkeit zur Antizipation derselben stärkeres Gewicht bei allen Entscheidungsfindungsprozessen. Angesichts globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Krieg und dem Umgang mit Künstlicher Intelligenz wird die menschliche Fähigkeit, die Auswirkungen des eigenen Handelns frühzeitig zu verstehen, vorausschauendes Denken zu üben und dabei gleichzeitig offen zu bleiben für Neues, für das Nicht-wissen-Können, ja sogar für das regelrechte Ver-Lernen tradierter Strukturen, immer zentraler.
Das von der UNESCO entwickelte Konzept der „Futures Literacy“ adressiert eben diese Befähigung des Menschen zum aktiven Zukunftsdenken. Der Begriff beschreibt eine Mischung aus Wissen, Werkzeugen und Haltungen sowie die Fähigkeit zur Antizipation möglicher Szenarien.4 Als positive Effekte der Futures Literacy gelten u. a. die Förderung von Innovationen, die Steigerung der Diversität von Handlungsoptionen, mehr Beweglichkeit, Empowerment und Resilienz in komplexen, krisenhaften und unsicheren Situationen und ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge der Welt.
Die sogenannten 4 Ks bilden als 21st Century Skills innerhalb der Futures Literacy Schlüsselkompetenzen, die als Basis für die Zukunftskompetenz aller Menschen und Gesellschaften fungieren und daher Gegenstand von Bildung und Ausbildung sein sollen. Das 4K-Modell wurde in den USA von „Partnership for 21st Century Learning (P21)“ im Kontext schulischen Lernens entwickelt und wird auch von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) propagiert. Es beinhaltet zunächst vier Zukunftsressourcen, die für Lernende und Lehrende im 21. Jahrhundert von herausragender Bedeutung sind:
– Kreativität: die Fähigkeit, innovative Ideen zu entwickeln und Problemstellungen auf neue Weise anzugehen.
– Kritisches Denken: die Fähigkeit, Informationen zu prüfen, zu analysieren, zu bewerten und auf dieser Basis fundierte Entscheidungen zu treffen – diese Fähigkeit ist insbesondere auch als digitale Informationskompetenz zu verstehen.
– Kommunikation: die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren und Informationen zu teilen.
– Kollaboration:5 die Fähigkeit, mit anderen im Team zusammenzuarbeiten und gemeinsam Lösungen zu finden.
Um diese Fähigkeiten zu entwickeln, sind nicht unbedingt spezifische Inhalte oder konkrete Wissensvermittlung erforderlich, sondern die Qualität und der Prozess der Vermittlung müssen sich ändern. Es gilt:
– Aufgaben und Inhalte bereitzustellen, die mehrere mögliche Lösungen implizieren und/ oder die Chance eröffnen, mit komplexen Problemen und Beispielen umzugehen sowie die eigene Vorstellungskraft zu fördern,
– dazu anzuleiten und zu ermutigen, kritische Fragen zu stellen,
– sich mit digitalen Möglichkeiten auszukennen und diese auch zu vermitteln,
– Entlastung und Ersatz beruflicher Aufgaben durch Künstliche Intelligenz ebenso souverän zu handhaben wie den daraus resultierenden Zuwachs an Aufgaben,
– die sozialen und emotionalen Fähigkeiten von Lernenden zu fördern und verbale wie nonverbale Kommunikationsfähigkeit zu entwickeln,
– selbst Teil des Teams aus Forschenden, Fragenden und Suchenden zu werden,
– die Diversität innerhalb der Teams bewusst zu steigern, um verschiedene Perspektiven einzubeziehen und auch die Übernahme unterschiedlicher Verantwortlichkeiten zu befördern.
21st Century Skills sind Fähigkeiten, die die Lehrkräfte selbst benötigen, die aber auch insbesondere an die nächsten Generationen vermittelt werden müssen. Der Umgang mit Musik, Methoden der Musikpädagogik und Musikvermittlung, das Musizieren mit anderen, gerade auch mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Hintergründe und Fähigkeiten, sind in besonderer Weise geeignet, diese Kompetenzen zu entwickeln und zu transportieren. Aufgaben wie Songwriting, das Kennenlernen ganz verschiedener Genres und Stilistiken, das gemeinsame und spielerische Musizieren von Anfang an, Dirigier- und Komponieraufgaben oder die Verknüpfung verschiedener Ausdrucksformen in selbstentwickelten Gestaltungen6 sind nur Beispiele für das Potenzial, das eine zeitgemäße Musikpädagogik im Hinblick auf die Entwicklung der 4 Ks bietet.

1 Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2024. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu beruflicher Bildung, www.bildungsbericht.de/de/startseite, S. 8 ff. (Stand: 8.8.2024).
2 vgl. Becker, Matthias/Spöttl, Georg/Windelband, Lars: „Beruflichkeit – nur ein Mythos?“, in: Berufs- und Wirtschaftspädagogik online – Nr. 45, Dezember 2023, S. 1-35, hier: S. 2, www.bwpat.de/ausgabe45/becker_ etal_bwpat45.pdf (Stand: 8.8.2024) sowie Kutscha, Günter: „Subject (de)construction and contingency – an autobiographically inspired contribution to the discourse on vocational education and training theory“, in: ­Berufs- und Wirtschaftspädagogik online – Spezial 19: Retrieving and recontextualising VET theory, August 2023, S. 1-25, www.bwpat.de/spezial19/kutscha_en_ spezial19.pdf (Stand: 8.8.2024).
3 Meyer, Rita: „Der Beruf ist tot, es lebe die Beruflichkeit!“, in: berufsbildung, H. 193, 3, 2022, S. 42-45, hier: S. 42.
4 Miller, Riel/UNESCO: „Transforming the Future. Anti­cipation in the 21st Century“, 2018, https://unesdoc. unesco.org/ark:/48223/pf0000264644 (Stand: 8.8.2024).
5 Im Gegensatz zum im deutschsprachigen Raum geläufigeren Begriff der Kooperation betont der Begriff der Kollaboration insbesondere im Bereich des Lehrens und Lernens den gemeinsamen Arbeitsprozess, die gemeinsame Definition von Zielen und die Fähigkeit zur gemeinsamen Urheberschaft und Problemlösung. Eine Kooperation kann auch bedeuten, mit Hilfe von anderen die eigenen Ziele zu erreichen oder ein bestimmtes Produkt zu generieren. Kollaboration wird hier demnach als der weitergehende Begriff verstanden und verwendet.
6 Materialien und Ideen hierzu finden sich beispielsweise in Kotzian, Rainer: Musik erfinden mit Kindern. Elementares Improvisieren, Arrangieren und Komponieren, Mainz 2015 und in Laufer, Daniela/Vogel, Corinna: Musikunterricht inklusiv: Grundlagen und Praxisideen für die Klassen 1-6, Innsbruck 2022.

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