© jeecis_www.stock.adobe.com

Großmann, Linde

Gestaltung des Ganzen

Anregungen aus August Halms „Klavierübung“ für das Üben und Unterrichten

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2020 , Seite 29

August Halms „Klavierübung“ liefert für viele Bereiche des Unterrichts systematische Hilfestellungen. Doch geht es ihm um mehr: „Inhaltlich betrachtend möchte ich die hauptsächliche Absicht dieser Schule in das Wort ,Freiheit‘ zusammenfassen; nämlich Freiheit gegenüber den Noten wie gegenüber der einzelnen Erscheinung.“1 Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung eines fast vergessenen Werks.

Wie würden Sie eine Klavierschule für AnfängerInnen zeitlich einordnen, in der folgende Forderungen gestellt werden:
– erste Spielerfahrungen sollten ohne Noten erworben werden,
– am Beginn des Unterrichts steht eine Phase der Orientierung auf der gesamten Klaviatur,
– das ungebundene Spiel (portato, non legato) geht dem gebundenen (legato) voraus,
– anfangs dominiert das Spiel mit abwechselnden Händen,
– Doppelgriffe geben der Hand Stabilität und können deshalb frühzeitig benutzt werden, auf jeden Fall vor den Tonleitern,
– vor dem Spiel in kompletten Fünf-Ton-Lagen werden kleinere Figuren mit zwei oder drei Fingern geübt,
– vor dem Spielen muss immer eine innere Vorstellung des zu Spielenden geschaffen werden,
– Pausen oder Stopp auf langen Noten dienen dem Vorausdenken.
Was ziemlich modern wirkt – es könnte so oder ähnlich in der Russischen Klavierschule (oder anderen russischen Klavierschulen), bei Sigrid Lehmstedt oder Peter Heilbut stehen –, findet sich in der Klavierübung von August Halm (1869-1929) aus dem Jahr 1918/ 19. Diese bedeutende, leider fast in Vergessenheit geratene Schule bietet nicht nur für den Anfangsunterricht Bemerkenswertes. Sie spiegelt den weiten Horizont des Verfassers auf musikalischem und pädagogischem Gebiet wider, denn Halm war nicht nur Klavierpädagoge: Er betrachtete sich zunächst vor allem als Komponist, daneben war er Musikkritiker und Musikwissenschaftler, dessen Hauptwerk Von zwei Kulturen der Musik seinen Namen bis heute im Bewusstsein vieler Musikwissenschaftler wachgehalten hat.
Als Klavierpädagoge war er zweimal (insgesamt etwa 13 Jahre) an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf in Thüringen tätig, das heißt in reformpädagogischem Umfeld. Diese drei beruflichen Ausrichtungen erklären zweifellos, warum es ihm in seiner Klavierübung nicht einfach um das Erlernen einer gewissen Menge systematisch angeordneter Stücke mit den dafür notwendigen technischen Fertigkeiten ging, sondern um eine „erste Einführung in die Musik“, wie es im Untertitel heißt.
Einiges in der Anlage des umfangreichen und auf den ersten Blick etwas unübersichtlichen Werks leuchtet sofort ein, anderes überrascht und erscheint vielleicht merkwürdig, zumindest aber gewöhnungsbedürftig. Man sieht sofort, dass es sich hier um ein Lehrwerk für etwas ältere AnfängerInnen handelt. Auch ­Erwachsene dürften hier sinnvolles Material finden. Eine zentrale Rolle spielt die Improvisation, wobei hier vielleicht der Begriff „Operieren mit dem musikalischen Material“, der in der russischen Klavierpädagogik gern benutzt wird, besser passt. Es geht nicht um das Improvisieren ganzer Stücke, sondern um das Erforschen der verschiedenen musikalischen Parameter. Warum aber gibt es kaum „fertig komponierte“ Stücke? Wie kann es passieren, dass man unversehens in bekannter Musik landet, die der Schüler oder die Schülerin quasi selbst erfunden hat?

1 August Halm: Klavierübung. Ein Lehrgang des Klavierspiels nach neuen Grundsätzen, zugleich erste Einführung in die Musik (1918/19), kommentierte Faksimileausgabe, hg. von Thomas Kabisch, Linde Großmann
und Martin Widmaier (= Quellen zur Musikgeschichte in ­Baden-Württemberg, Band 2), ortus Musikverlag, Beeskow 2019, S. 209.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2020.