Godau, Marc
Hacking Music Education
Über das Potenzial einer Kulturtechnik des Digitalzeitalters für musikpädagogisches Denken und Handeln
Ende April 2021 haben SchülerInnen fast ihren gesamten Schuldistrikt im US-Bundesstaat Illinois „gerickrolled“. Die 14-Jährigen ließen zeitgleich auf allen Bildschirmen in sechs Schulen das Musikvideo „Never Gonna Give You Up“ von Rick Astley (1987) abspielen.1 Im Folgenden möchte ich das Potenzial von Hacking für eine Musikpädagogik im 21. Jahrhundert skizzieren. Dazu werde ich Hacking medienhistorisch einordnen, damit verbundene Praktiken und Haltungen beleuchten sowie auf Spielarten und deren Relevanz für Musikschulen hinweisen.
Berichte wie der eingangs erwähnte Vorfall in Illinois verblüffen aufgrund ihrer Ambivalenz: Zum einen amüsiert die Situation, da das Musikvideo im Frühjahr 2021 auf Social Media Plattformen viral ging, was die Wahl eines über 30 Jahre alten Songs rechtfertigt und die Witzigkeit des Streichs unterstreicht. Zum anderen wurde offensichtlich von minderjährigen HackerInnen eine Straftat begangen, die jedoch entscheidende Sicherheitslücken aufdeckte. Und so ernteten die Jugendlichen anstatt einer Disziplinierung den Dank des technischen Direktors.2
Heldinnen der nächsten Gesellschaft
Medial stehen HackerInnen regelmäßig im Rampenlicht. Dazu gehören fiktionale FilmheldInnen wie MacGyver, Lex (Jurassic Park), Neo (Matrix) und Lisbeth Salander (Verblendung) oder reale Personen und Gruppen wie Julian Assange (WikiLeaks), Edward Snowden, der Chaos Computer Club (CCC) und Anonymous.
HackerInnen sind ein Produkt des Digitalzeitalters. Folgt man dem Soziologen Dirk Baecker,3 dann gehen Medienumschwünge mit gesellschaftlichen Veränderungen einher. So sei die Erfindung der Schrift mit einem Symbolüberschuss und der Entstehung zweckorientierten Denkens einhergegangen, der Buchdruck sowie die massenhafte Vervielfältigung und Verbreitung von Texten habe einen Überschuss an Kritik produziert, wobei die Kulturform das Gleichgewicht beförderte, sodass Gegenkritik auf Kritik folgen konnte. Schließlich führte die Verbreitung des Computers zu einem Kontrollüberschuss.
Das beschränkt sich nicht auf staatliche oder institutionelle Kontrollformen. Beispielsweise geht die Zunahme immer intuitiverer, kostenfreier Musik-Software und -Hardware sowie von Musikapps mit einer Zunahme geschlossener Systeme einher. Bedienfreundlichkeit ist überspitzt formuliert ein Potenzial einer Technologie, die uns schnell mit ihr umgehen lässt, sodass wir als UserInnen das machen, was wir tun sollen. Wer kontrolliert hier wen, wir die Technologie oder sie uns? Gravierend kommt hier oft der geplante Verschleiß (planned obsoloscense) hinzu, ein Designfeature vieler Digitaltechnologien, das zur Verschlechterung der Nutzung bis hin zur Unbrauchbarkeit führt und wiederum zum Neuerwerb drängt. Dieses Phänomen betrifft einerseits Grenzen der Legalität und der Vorherrschaft von Unternehmen. Andererseits legen wir so heute die Grundlage für die Müllberge von morgen.
In der Kulturtechnik des Hacking verwirklicht sich nunmehr die Idee, auf andauerndes Kontrolliert-Werden mit Kontrollieren ebendieses Kontrolliert-Werdens zu antworten. Der Kölner Kunstpädagoge Torsten Meyer pointiert das wie folgt: „Der Held der nächsten Gesellschaft, Sachverwalter der Kultur und vorbildliches Ideal für Bildungsprojekte ist nicht mehr der an die öffentliche Vernunft appellierende Intellektuelle der Aufklärung, nicht mehr der den Vergleich des Realen mit dem Idealen beherrschende Kritiker, kurz: nicht mehr das souveräne Subjekt der Moderne, sondern der Hacker.“4
Hacking als ethische Haltung
In vielen Fällen sind Hacks Notlösungen, insofern die originellen Einfälle auf existenzielle Problemlagen und Ohnmacht reagieren. Ausgangspunkt ist stets ein Widerstand gegen einen Status Quo, mit dem sich HackerInnen aufgrund der Einschränkungen in Freiheit und Mitbestimmung nicht zufriedengeben (wollen). Für den Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder sind KünstlerInnen und HackerInnen zwei Seiten einer Medaille, da beide nach Freiheit streben.5 Allerdings bilden nicht künstlerische Freiheit, sondern Unfreiheitserfahrungen die Grundlage für HackerInnen.
1 WhiteHoodHacker: „IoT Hacking and Rickrolling My High School District“, 4.10.21, https://whitehoodhacker.net/posts/2021-10-04-the-big-rick (Stand: 3.3.2022).
2 t3n digital pioneers: „Rickrolling: Schüler hacken ganzen Schulbezirk für 80er-Hit, https://t3n.de/news/big-rick-schueler-hacken-rick-rolling-1417275 (Stand: 3.3.2022).
3 Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007, S. 147-169.
4 Torsten Meyer: Next Art Education, Köln 2013, S. 14, http://kunst.uni-koeln.de/_kpp_daten/pdf/ KPP29_Meyer.pdf (Stand: 3.3.2022)
5 Felix Stalder: „Hacker als Produzenten“, in: Dominik Landwehr (Hg.): Hacking, Basel 2014, S. 182-191.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2022.