Röbke, Peter

Hänschen Klein als Lead Sheet?

Oder: Wie können "Klassiker" eine Real-Book-Haltung entwickeln?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2014 , Seite 06

Die Noten von “Hänschen Klein” sind ­natürlich kein Lead Sheet in dem Sinne, dass sie zum Startschuss für eine elaborierte Improvisation werden könnten. Aber den Grund­gedanken, ein schlichtes Stück könne zum Ausgangs­punkt eines Musizier­prozesses werden und sich das musikalische Tun nicht nur in der ­fehlerfreien Wiedergabe des Aufgeschrie­benen erschöpfen, diesen Gedanken können wir ­weiterverfolgen.

Seit einigen Wochen trifft eine Geigenlehrerin an einer Grundschule im Ruhrgebiet regelmäßig mit fünf Kindern zusammen, die sich nach einem einführenden Jahr im Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ für die Geige entschieden haben. Grundlage der Arbeit mit der Fünfergruppe ist das JeKi-Lehrwerk für die Geige. Wenn wir nun unterstellen, dass die Kollegin, die vielleicht wenig Erfahrung im Arbeiten mit Gruppen hat, sich durchweg daran hielte, dann wäre sie auf Seite 17 – also nach einer gehörigen Zeitstrecke, die sie mit ihrer Gruppe schon verbracht hat – plötzlich im Zusammenhang mit dem Lied Jeder spielt, so gut er kann, das zusammen gesungen werden soll, mit der Aufforderung konfrontiert: „Spiel zu dem Lied eine gezupfte Begleitung auf der D- und A-Saite.“ Eine Aufforderung, die vom Symbol der drei Kinderköpfe unterstrichen wird, was so viel bedeutet wie: „Hier könnt ihr zusammenspielen.“ Sofort drängen sich mir einige Fragen auf:
Würde über Möglichkeiten der Begleitung einfacher Lieder auch ohne diese Aufforderung nachgedacht?
Sind eigentlich in den Wochen vor dieser Aufforderung zum Ensemblespiel schon die Möglichkeiten der Gruppe zum gemeinsamen Musizieren genutzt worden?
Und wird auch fortan nur dann wirklich in der Gruppe musiziert werden, wenn seitens der Instrumentalschule explizit die Ermunterung dazu erfolgt?
Und eine weitere Frage kommt mir vor allem beim Blick auf das ausnotierte Material für das Ensemble Kunterbunt in den Sinn:
Müssen musikalische Praxen, die in schriftlosen Kulturen selbstverständlich sind, also die Begleitung in Fundamenttönen, das Austerzen von Melodien, die Auszierung von Hauptstimmen, müssen solche Praxen in Noten fixiert werden, damit „Klassiker“ sich an eine frühe und alltägliche Mehrstimmigkeit überhaupt herantrauen?
Ein Jazzmusiker, der in seinem Real-Book stöbert, dabei etwa auf Summertime von George Gershwin stößt und zu spielen beginnt, weiß, dass einerseits das Notierte nur einen Kompromiss oder quasi die musikalische Durchschnittsmenge der real vorhandenen Versionen des Stücks darstellt und dass es andererseits mit dem ein­fachen Durchspielen nicht getan ist: Das flüchtig Hingeworfene ist nur Ausgangspunkt des Spiels, es skizziert in groben Zügen harmonische Verläufe und melo­dische Konturen, die nunmehr in der Improvisation sowohl zu berücksichtigen als auch auszugestalten sind. Hielte man einem „Klassiker“ dieses Blatt hin, so wäre zu befürchten, dass er es nicht als Gerüst eines sich anschließenden musikalischen Prozesses betrachtete, sondern als Aufforderung zur korrekten Wiedergabe des Textes: also nicht Lead Sheet für die Improvisation, sondern verbindlicher Text, nicht Ausgangs-, sondern Endpunkt des Musizierens.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2014.