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Spychiger, Maria

Handeln und Widerfahrnis

Wegkreuzungen von Musik und Religion in der menschlichen Erfahrung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 06

Die Bereiche der musikalischen und der religiösen Erfahrung liegen bei vielen Menschen nicht weit auseinander. Wie kommt das, worin liegen die Besonderheiten und Berührungspunkte?

Zur Einleitung: „Tutti Frutti“

Für die Auffassung der Nähe von Musik und Religion gibt es eine breit abgestützte Einigkeit unter namhaften Personen. Von Hans Küng stammt die Aussage, die Grenze zwischen Musik und Religion sei „ganz fein und dünn“.1 Der kürzlich verstorbene Theologe ist besonders für seinen Innovationsgeist und den Mut zur offenen Auseinandersetzung bekannt. In den Gedenkreden und -sendungen kam aber ebenso sehr seine Musikaffinität zur Sprache. Sein Buch mit dem Titel Musik und Religion2 ist inzwischen schon in der siebten Auflage erschienen und wird damit vielleicht auf Dauer seine erfolgreichste Schrift sein.3 Ein anderes Beispiel ist der Musiker David Bowie, ebenfalls ein mutiger Erneuerer. Laut Aussage seines Biografen ist er in seiner Kindheit mit Rock’n’Roll in Berührung gekommen, hat als erste Schallplatte das Lied Tutti Frutti mit Little Richards geschenkt bekommen und später dazu gesagt, er habe Gott gehört.4 Bowie ist in zahlreicher Gesellschaft, oft werden Auftritte von Musikerinnen und Musikern als „göttlich“ beschrieben; oder stärker noch, wie etwa eine Studentin nach einem Konzert ihres Kommilitonen begeistert berichtet hat: „Er spielt wie ein Gott, wie ein Gott!“
In bildlichen Ausdrucks- und Darstellungswelten wird die Musik sehr oft mit dem Himmel und dessen Boten, den Engeln, verbunden. Weitergehend hat der Reformator Martin Luther in einem Gedicht die Engel direkt als Musikanten bezeichnet und die Musik im gleichen Atemzug als Weg zum Himmel beschrieben: „Wer sich die Musik erkiest, hat ein himmlisch Werk gewonnen, denn ihr erster Ursprung ist von dem Himmel selbst genommen, weil die lieben Engelein selber Musikanten sein.“
Nun aber findet man bei Hans Heinrich Eggebrecht das musikwissenschaftliche Urteil, wo­nach es eine solch direkte Verschwisterung von Musik und Religion nicht gebe – religiöse Musik ja, natürlich, nicht aber das Religiöse in der Musik.5 Christoph Stange ergänzt dieses Votum mit dem Hinweis, dass das musikalische Material und die kompositorischen Mittel für weltliche und religiöse Musik die gleichen seien.6 Auch der Religionspsychologe Jacob van Belzen relativiert: Selbst bei einer höchst religiösen Musik wie Bachs Matthäuspassion sei eine bestimmte Sozialisa­tion notwendig, um sie entsprechend zu hören. Das religiöse Erleben emaniere also nicht direkt aus der Musik, sondern sei Ergebnis kultureller Prägungen.7
Mit diesem Beitrag möchte ich den Blick primär auf die menschliche Erfahrung richten. Viele Menschen berichten in vielfältiger Weise über Erfahrungen religiöser, spiritueller oder transzendenter Art im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Musik, beim Hören wie beim eigenen Musizieren. Es kommt dabei keinesfalls nur die von Eggebrecht genannte, von vornherein religiös bestimmte Musik zum Zug, sondern verschiedenste Musiken und Musikstile. Nach der Befassung mit den Eigenheiten religiöser und musikalischer Erfahrung werden Schnittmengen und Wegkreuzungen der beiden Bereiche am ehesten in der ästhetischen Erfahrung vermutet und zur Diskussion gestellt. Die Auseinandersetzung will fortschreitend schließlich zeigen, dass die musikalische und ästhetische Bildung ihre Einzigartigkeit natürlich aus ihrer kulturellen Relevanz, aber eben auch aus ihrer je subjektiven Nähe zum Erfahrungsbereich des Heiligen hat, auch wenn dieses säkularisiert ist.

Religiöse und musikalische Erfahrung

Der innere evolutionsgeschichtliche Bezug zwischen Musik, Kultur und Religion findet sich auch in kulturpsychologischen Stellungnahmen.8 Musik hat ein starkes Potenzial, Welterfahrung im Bewusstsein zu erweitern oder zumindest zu begleiten und zu unterstützen. Im jüdisch-christlich gebundenen Schnittbereich von Religion und Musik stand die Musik vorerst im Dienst der Rituale und dem Kontakt zur göttlichen Welt. Im abendländischen Christentum haben der religiöse Ausdruck und die Anbetung in der Kirchenmusik eine starke Ausdifferenzierung durchlaufen: Die Komponisten haben immer neue Oratorien, Messen, Kantaten, Motetten, Requiems erstellt, welche sowohl die kirchlichen Anlässe begleitet haben als auch in eigenständigen Konzerten aufgeführt wurden.

1 mündliches Zeugnis des Autors in der Gedenksendung am 24. April 2021 im österreichischen Rundfunk (ORF1).
2 Hans Küng: Musik und Religion. Mozart – Wagner – Bruckner, München 2006.
3 Bemerkenswert ist auch, dass sein Buch nicht Religion und Musik, sondern umgekehrt Musik und Religion zum Titel hat.
4 Marc Spitz: David Bowie. Die Biografie, Hamburg 2010, S. 48-66.
5 Hans Heinrich Eggebrecht: „Geistliche Musik – was ist das?“, in: Musik und Kirche 66 (1), 1996, S. 3-9.
6 zit. nach Andreas Kruse: Musik und Religion im Kontext pädagogischer Reflexion. Subjektentwicklung zwischen Nähe und Distanz, Augsburg 2016, S. 112.
7 Jacob van Belzen: „Musik und christlicher Glaube. ­Religionspsychologische Randbemerkungen zu einer empirischen Beobachtung“, in: ders. (Hg.): Musik und Religion. Psychologische Zugänge, Wiesbaden 2013, S. 9-37, hier: S. 25; siehe auch John Eliot Gardiner: Bach. Musik für die Himmelsburg, München 2013/22016, S. 43.
8 etwa bei Christian Allesch: „Musik und Religion. Eine kulturpsychologische Perspektive“, in: Jacob van Belzen (Hg.): Musik und Religion. Psychologische Zugänge, Wiesbaden 2013, S. 39-56, hier: S. 45.

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