Abilgaard, Peer

„Hauptsache gesund!“

Sind Musiker kränker als andere Menschen?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2010 , Seite 06

Sind Berufsmusikerinnen und -musiker mehr gefährdet zu erkranken als beispielsweise Büroangestellte? Sind sie ­vielleicht gesünder und zufriedener oder belastbarer als die Allgemeinbevölkerung? Was bedeutet „krank sein“ und „gesund sein“ im Berufsmusikeralltag? Diese Fragen sollen im Folgenden aus der Perspektive des „Musiker-Haus­arztes“ der Hochschule für Musik und Tanz Köln beleuchtet werden.

Ein befreundeter Kirchenmusiker klagte mir neulich sein Leid: „Mit den Sängerinnen und Sängern ist das so eine Sache! Da erlebt man immer wieder kurz vor dem Konzerttermin ungute Überraschungen, wenn ein akut aufgetretener Katarrh der oberen Atemwege die Messias-Aufführung in Frage stellt. Bei den Instrumentalisten ist das nicht so ein Prob­lem. Da muss ich fast nie ,notfallmäßig‘ telefonieren, um noch schnell im Falle des Falles Ersatz zu bekommen. Wahrscheinlich gibt es wohl spezielle Erreger, die immer genau wissen, wenn ein Sänger des Weges kommt, um sich dann mit ganzer Kraft auf ihn stürzen zu können…“
Ich konnte meinen Freund beruhigen, dass ich von so einem Erregertyp noch nie etwas gehört hätte. Und auch die Vermutung, dass Sängerinnen und Sänger häufiger erkältet seien als beispielsweise Geiger oder HNO-Ärzte, ist ziemlich unwahrscheinlich, verdient aber eine genauere Betrachtung.

Krank oder gesund: reine Definitionssache?

Was heißt denn krank – oder gesund? Fragt man die Experten, bekommt man sehr viele unterschiedliche Antworten: Beispielsweise ist im arbeitsrechtlichen Sinne derjenige krank, der nicht arbeiten kann. Im Pschyrembel, dem Standard-Wörterbuch der Medizin, ist in der Ausgabe von 1975 zu lesen: „Krankheit ist eine Störung der normalen Funktion der Organe oder Organsysteme des Körpers.“ Im gleichen Buch, aber der Ausgabe aus dem Jahr 2002 wird derselbe Begriff folgendermaßen definiert: „Krankheiten sind Störungen der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfunden bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Veränderungen…“. Offenbar ist Krankheit ein Begriff, der Modernisierungen unterworfen ist.
Ganz anders definiert der Medizinsoziologe Talcott Parsons den Begriff: „Zusammenfassend können wir Krankheit als einen Zustand der Störung des normalen Funktionierens des Menschen bezeichnen, was sowohl den Zustand des Organismus an sich als auch seine individuellen und sozialen Anpassungen angeht.“1 Offenbar geht es hier auch um den Aspekt von Beziehung, der durch Kranksein in Mitleidenschaft gezogen werden kann.
Ungleich schwieriger stellt sich die Situation für den Begriff „Gesundheit“ dar. Bis heute Inhalt vieler Diskussionen ist die von der WHO 1948 ins Spiel gebrachte Definition: „Gesundheit ist der Zustand eines vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“ Die Kont­roverse entzündet sich am Begriff der „Vollkommenheit“: im Kontext von Gesundheit ­allenfalls ein Ziel therapeutischer Bemühungen, als dauerhafter Zustand eines Menschen aber eher utopisch.
Und jetzt? In seiner Übersichtsarbeit Gesundheitspsychologie fasst Toni Faltermaier zusammen, „dass die Begriffe ,Gesundheit‘ und ,Krankheit‘ ganzheitliche Phänomene sind, die sich sowohl durch das Vorhandensein oder Fehlen von Merkmalen auszeichnen, die durch objektive Parameter messbar sind, aber gleichzeitig hochgradig dem subjektiven Erleben unterworfen sind und nicht zuletzt, dass Gesundheit, aber auch Krankheit eine soziale Konstruktion ist, d. h. sie wird im sozialen Kontext auf der Grundlage herrschender Lebensvorstellung bestimmt und hängt von den Anforderungen ab, die eine Gesellschaft in einer bestimmten historischen Epoche an ihre Mitglieder stellt“. Und weiter: „Gesundheit und Krankheit sind aufeinander bezogen; sie stehen im Kontrast, schließen sich aber nicht aus: Man kann krank sein, sich dabei aber gesund fühlen und umgekehrt. Es kann sogar ein wesentliches Kennzeichen von Gesundheit sein, wie eine Person oder Organismus mit Störungen umgeht. Die gängige dichotome Aufteilung zwischen zwei sich wechselseitig ausschließenden Zuständen – Gesundheit oder Krankheit – wird zunehmend als nicht mehr angemessen betrachtet. Denn der Übergangsbereich zwischen Gesundheit und Krankheit ist breit und fließend.“2

1 Talcott Parsons: „Struktur und Funktion der modernen Medizin: Eine soziologische Analyse“, in: René König/ Margret Tönnesmann (Hg.): Probleme der Medizin-­Soziologie. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1958, S. 10-57, hier: S. 24.
2 Toni Faltermaier: Gesundheitspsychologie, Stuttgart 2005, S. 29.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2010.