Calella, Michele / Nikolaus Urbanek (Hg.)

Historische ­Musikwissenschaft

Grundlagen und Perspektiven

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Metzler, Stuttgart 2013
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 53

Ein Blick in das umfangreiche Personenregister verdeutlicht es auf seine Weise: Wo Bob Dylan auf Antonín Dvorak folgt, Geor­ges Bizet und Roy Black benachbart sind oder Vladimir Karbusicky und Herbert von Karajan nebeneinander stehen, da wird erkennbar, wie weit mittlerweile die Historische Musikwissenschaft reicht. Fand sie seit Ende des 19. Jahrhunderts ihr Zent­rum im musikalischen Kunstwerk, war es die Kunstmusik, deren Gestalt, Voraussetzung und Entwicklung der Musikwissenschaftler erforschte, so belehrt das vorliegende Buch, wie mächtig der aktuelle Rahmen der Historischen Musikwissenschaft unterdessen gewachsen ist.
Der Wandel zu einer Disziplin nach der Formel „Musik plus X“ setzt in Deutschland und Österreich mit dem als Einschnitt empfundenen gesellschaftlichen Wandel um 1968 ein. Vor allem die Musik in ihrer gesellschaft­lichen Einbindung gerät ins Visier der Historischen Musikwissenschaft. Musik wird seither als Angelegenheit des Menschen in seiner Vielfalt gesehen, als Ergebnis sozialer Prozesse, als Zeugnis von Freiheit und Knechtschaft, ja von geschlechtsspezifischem Glück und Leid. Dementsprechend ändert sich der Zugang, wechseln die Methoden. Fächer wie Politik, Soziologie oder Psychologie mit ihren zahllosen Untergliederungen umstehen gleichsam die Historische Musikwissenschaft und achten darauf, dass diese auch den richtigen Partner an ihrer Seite hat.
Der vorliegende stattliche Band mit seinen ca. 450 eng bedruckten Seiten erwuchs aus einer öffentlichen Ringvorlesung, welche im Studienjahr 2012 das Ins­titut für Musikwissenschaft der Wiener Universität organisierte. Wie Michele Calella und Nikolaus Urbanek, die beiden Herausgeber, hervorheben, gehe der Sammelband mit seinen 23 Beiträgen just von jenem geweiteten Musikbegriff aus, den die vergangenen Jahrzehnte generiert hätten, zum Preis bzw. ­Vorteil einer „dissonanten Poly­phonie“ bei „erheblichem Zündstoff“.
In der Tat verlangt die Lektüre des Werks mit seinen vier Abteilungen „Grundlagen“, „Disziplinierungen“, „Herausforderungen“ und „Perspektiven“ ständige Anpassung und Neu-Justierung, sieht sich der Leser auch recht subjektiven Vorstellungen gegenüber. Der erstrebte Reichtum an Gedanken, an Kritik, aber auch Selbstkritik bei vielfältigem Fachwissen ist in jedem Fall gesichert. Leider erlaubt es der verfügbare Platz nicht, hier jeden Beitrag zu umreißen, doch seien – voller Respekt – wenigstens die AutorInnen aufgeführt: Anna Maria Busse Berger, Karol Berger, Barbara Boisitis, Camilla Bork, Michele Calella, Federico Celestini, Marie-Agnes Dittrich, Max Haas, Frank Hentschel, Hans Joachim Hinrichsen, Tobias Janz, Christian Kaden, Richard Klein, Birgit Lodes, Matteo Nanni, Hans Neuhoff, K. Ludwig Pfeiffer, Jan Philipp Sprick, Reinhard Strohm, Melanie Unseld, Nikolaus Urbanek, Melanie Wald-Fuhrmann, Ferdinand Zehentreiter.
Albrecht Goebel