Gruhn, Wilfried
Hören als Handeln
Eine neurophysiologische Theorie der musikalischen Wahrnehmung
Wilfried Gruhn liefert einen allgemeinverständlich formulierten Einstieg in die wissenschaftliche Erklärung des Hörens, das er immer mit Handeln in diversen Formen verbindet. Der Untertitel impliziert komplexe medizinische Inhalte, doch Gruhn erklärt das Hören aus Sicht des Musikwissenschaftlers und so werden auch NichtmedizinerInnen problemlos verstehen.
Es gibt verschiedene Arten des Hörens, also verschiedene Arten der Musikrezeption: Musik regt bei bestimmten Personen nachweislich andere Hirnbereiche an als bei anderen. Auch ist die Anatomie des Ohres und die neurologische Leitung von akustischen Reizen zwar bekannt, doch Gruhn schafft es, all dies leicht verständlich zu bündeln, zu erläutern, zu illustrieren und mit Exkursen in Philosophie und Geschichte sowie vielen aussagekräftigen Abbildungen zu würzen. So ist das Büchlein nicht nur für aktive MusikerInnen, MusikpädagogInnen oder -wissenschaftlerInnen von Interesse: Jeder, der sich für das Hören interessiert, bekommt hier ein spannendes Kompendium.
Gruhn ist sich sicher, dass Hören und Handeln immer gemeinsam stattfinden, dass die kognitiven Prozesse, die automatisch beim Hören (bewusst oder unbewusst) ablaufen, genauso als Handlung zu definieren sind wie das spontane Mitwippen des Fußes bei rhythmisch bewegter Musik. Die „Rezeptionssituation“ spiele dabei eine Rolle und Gruhn führt dazu Beispiele an.
Einige Abbildungen zeigen höfische Musiker in der Kleidung ihrer Zeit, sehr entspannte ZuhörerInnen der Rolling Stones bei einem Konzert 1969 und auch einige physiologische Sachverhalte. So wird auch dem Auge immer etwas Ansprechendes, zugleich Information Vermittelndes geboten, der Text wird dadurch aufgelockert und inhaltlich vertieft.
Auch das „emotionale Verstehen“ von Musik sei abhängig von „sozialen, kulturellen und situativen Faktoren“, so Gruhn. Auch hier stellen sich die Emotionen durch kognitive Vorgänge ein. Gruhn beschreibt die anders gearteten Herausforderungen beim Hören von Neuer Musik im Vergleich zum Hören bekannter Stücke aus dem Abokonzert, die vielfachen Veränderungen im Hörverhalten durch die immerwährende Erreichbarkeit digitaler Medien und spannende Täuschungen des Hörsinns durch musikalische Kniffe (dazu kurze Auszüge aus Partituren). Überhaupt sei das Hören nicht nur für Musik, sondern für das gesamte Leben von großer Wichtigkeit. Immer gelte: „Die Hörwahrnehmung ist somit instrumentell wie funktional an das Handeln gebunden“. So sind „sensorische und motorische Vorgänge, also Wahrnehmen und Handeln nicht nur eng miteinander verbunden, sondern haben sich auch zusammen entwickelt.“ Handeln im Sinne des Autors äußert sich also nicht unbedingt in großen Bewegungen, in Gesten oder Mimik, denn auch die kognitiven Vorgänge seien Handlung.
Heike Eickhoff