Müller, Matthias

Hören – Sehen – Verstehen

Stimmanalyse mit VoceVista im Gesangsunterricht – eine praxisorientierte Einführung, mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2015
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , Seite 51

Wie können wir im Instrumentalunterricht, speziell beim Gesang, objektiv sein? Beim Klavier kennen wir es schon länger: computeraufgerüstete Instrumente, die beim Spielen jedes Detail aufnehmen und danach das Stück wie von Zauberhand genau so abspielen, wie ich es zuvor in die Tasten gedonnert habe. Nach dem ersten Schock kann ich dann anfangen, von vorne Technik zu üben. Oder ich lege mir ein dickes Fell zu und sage mir, dass im Konzert auch Raumakustik und Bühnenpräsenz für die Wirkung ­meines Spiels nicht zu unterschätzen sind.
Nun kann die PC-gestützte Optimierung auch Einzug in die Gesangspädagogik halten: Mat­thias Müller gibt im vorliegenden Band eine gut durchdachte Schritt-für-Schritt-Einführung in das Arbeiten mit dem Computerprogramm VoceVista, die in ihrer klaren Struktur, Plastizität und sprachlichen Präzision den Nutzer dieser technischen Erweiterung der Lehrmöglichkeiten beherzt an die Hand nimmt und stets an der Begeisterung des Autors für dieses Medium teilhaben lässt. Man erfährt, wie man das Programm installiert, wie die ersten Arbeitsschritte aussehen, wie man Formanten jeglicher Couleur erkennen lernt und sein Hörvermögen weiter ausdifferen­zieren kann; des Weiteren Besonderheiten und Geheimnisse diverser Resonanzstrategien und wie man im Unterricht damit umgehen kann. Analytische Verfahren im Unterschied zwischen Sing- und Sprechstimme werden ebenso thematisiert wie Vibrato und Stimmfachfragen. Stets spürt man die Begeisterung, das fundierte Wissen des methodisch exemplarisch agierenden Autors, tritt man jemandem gegenüber, der sich trotz technischer Fachsprache optimal reflektiert sogleich in den Dialog mit seinen AdressatInnen begibt, seine Erläuterungen anhand einer beigefügten DVD visualisiert.
Das sehr Persönliche in diesem Buch tröstet ein wenig über das mulmige Gefühl beim Beschäf­tigen mit diesem Versuch der „Entzauberung der Stimme“ hinweg, das manch versierten Sänger, manch erfahrene Gesangspädagogin beschleichen wird:  Als Gesangspädagogin weiß ich selbst natürlich genau, was ich meine, wenn ich mit mehr oder weniger blumigen Worten meine Intention umschreibe; ich fühle ja die entscheidenden Prozesse in mir selbst. Doch der noch nicht so erfahrene Schüler muss oft erraten, was durch das unbeholfene Hilfsmittel Sprache teils eher verschleiert als enthüllt wird. Die vielen Bilder, mit denen GesangspädagogInnen häufig arbeiten, können aber dank VoceVista nun in physikalisch erklärbare, am Bildschirm sicht- und damit differenzierter verstehbare Formen gebracht werden. Trotz aller Vorbehalte ein Schritt zum Erkenntnisgewinn. Ob man freilich die Stimme ihres jahrtausendealten Zaubers berauben möchte, die Individualität des Timbres zu­gunsten einer regulierten Idealkurve aufgeben will, ist eine andere Frage.
Christina Humenberger