@ Alex 'Florstein' Fedorov CC BY-SA 4.0

Schwericke, Jenny

Hohe Anforderungen

Ein Einblick in die russische Klavierpädagogik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2018 , Seite 44

Im Rahmen eines dreimonatigen Auslandssemesters hatte unsere Autorin die Möglichkeit, am Sankt Peters­burger Konservatorium zu studieren und ein Unterrichtspraktikum an der zum Konservatorium gehörenden Musikschule zu absolvieren. Jenny Schwericke gibt Einblick in die russische Klaviermethodik aus der Perspektive von Lehrkräften und SchülerInnen.

Schon zu Beginn meines Musikstudiums unterrichtete ich privat KlavierschülerInnen. Besonders interessiert und begleitet hat mich dabei die russische Klavierschule und ihre Methodik. Einerseits weckten zahlreiche aus Russland stammende, erfolgreiche und international sehr geschätzte Pianisten mein Interesse (z. B. Richter, Gilels, Horowitz) und ich wollte die russische Klaviermethodik kennenlernen, mit der sie zu berühmten Persönlichkeiten heranwuchsen. Andererseits hat sich auch aufgrund von Erzählungen meiner Mutter, die in Russland aufwuchs und jahrelang eine als sehr streng geltende, auf enorm anspruchsvollem Niveau unterrichtende Musikschule besuchte, mein Interesse verstärkt, mir ein persönliches Bild von den dortigen Lehrmethoden zu machen.
So besuchte ich während eines Praktikums in St. Petersburg jede Woche meinen eigenen Klavierunterricht, hospitierte und unterrichtete zusätzlich bei drei Klavierschülerinnen, welche zwei Lehrerinnen zugeordnet waren. Die drei Schülerinnen befanden sich in der zweiten, fünften und achten Klasse der russischen Musikschule.
Schon am ersten Tag meines Praktikums stell­te ich fest, dass sich russische KlavierschülerInnen anders benehmen als deutsche. Ernst betreten sie den Raum, freundlich begrüßen sie die Lehrkraft, mit adäquater Körperhaltung sitzen sie unabhängig von ihrem Alter die ganze Klavierstunde über am Klavier – egal ob die Stunde 45 oder 90 Minuten lang dauert. Während des gesamten Unterrichts hörten die von mir beobachteten Schülerinnen der Lehrkraft bedingungslos zu, versuchten Anmerkungen umzusetzen und ließen sich äußerlich keine Konzentrationsschwächen anmerken. Den Kindern wurde von Anfang an verdeutlicht, dass sie hier sind, um zu lernen und an ihren Fähigkeiten zu arbeiten; nicht um Spaß zu haben und spielerisch an eine neue Tätigkeit herangeführt zu werden. Es wird von FünftklässlerInnen genauso wie von ZweitklässlerInnen verlangt, dass sie sich nach der Schule und den Hausaufgaben jeden Tag ans Klavier setzen und üben.

Lehrerautorität

Eng mit dem disziplinierten Schülerverhalten zusammen hängt das Verhältnis der Schü­lerInnen zur Lehrkraft. Was die Lehrperson während meines Praktikums sagte, wurde niemals angezweifelt. Die Schülerinnen kamen gar nicht auf die Idee, eine Anmerkung oder einen Verbesserungsvorschlag als Diskussionsgrundlage aufzufassen. Es wurde stets gemacht, was die Lehrkraft verlangte. Ein weiteres Druckmittel neben der Lehrkraft stellte für die jüngste von mir beobachtete Schülerin ihre Mutter dar. Denn diese saß während jeder Klavierstunde mit im Raum und schrieb fleißig auf, was die Lehrerin am Klavierspiel ihrer Tochter verbesserte. So sitzen die Mütter bei ihren Kindern bis etwa zum Ende der dritten Musikschulklasse mit im Klavierunterricht, beobachten und notieren das Geschehen, um zu Hause mit den Kindern gemeinsam üben zu können.

Selbstständigkeit

Von früh an lernen die Kinder, im Klavierunterricht selbstständig zu arbeiten. Die Lehrkraft ist in erster Linie dazu da, die KlavierschülerInnen auf ihre Fehler hinsichtlich des Rhythmus, der Dynamik oder der genauen Note hinzuweisen. Dies geschah jedoch in den von mir beobachteten Unterrichtsstunden meist nicht durch einfaches Aufzeigen. Meist verlangte die Lehrerin von ihrer Schülerin, eine bestimmte Stelle noch einmal zu spielen und den Fehler selbst zu finden. Wenn der Schülerin daraufhin klar war, was vorher falsch gespielt wurde, war es nun ihre Aufgabe, diese Stelle zu Hause auszubessern – nicht jedoch im Unterricht.
Mehrmals wurde mir von beiden Lehrerinnen, bei denen ich hospitierte, gesagt, dass das Üben nicht Teil des Unterrichts sein sollte. Ebenso verhielt es sich in meinem eigenen Klavierunterricht.
Während der Arbeit mit den Stücken legten beide Lehrerinnen sehr viel Wert auf Analyse, Logik und Aufbau von Formteilen und Phrasen. Es war der Lehrkraft wichtig, dass die Schülerinnen nicht einfach irgendwelche Töne auswendig lernen, sondern dass sie den Aufbau der Stücken verstehen und beginnen, über Harmonien nachzudenken – auch schon in der zweiten Musikschulklasse. Ebenfalls verlangten die Lehrerinnen, dass sich ihre Schülerinnen zu jedem Stück bildlich oder emotional etwas vorstellen und die Stücke nicht einfach irgendwie herunterspielen. Oft wurden solche tiefer gehenden Auseinandersetzungen auch als Hausaufgabe, das heißt zur selbstständigen Arbeit aufgegeben.

Angst

Am markantesten in meinem Gedächtnis ist die Angst vor dem Unterricht und der Lehrkraft haften geblieben. Schon wenn die Schü­lerinnen den Unterrichtsraum betraten, stand ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben. Wäh­rend die Schülerinnen der Lehrerin ihr Stück vorspielten, saßen sie starr am Flügel, die Arme und Hände wirkten oft verkrampft und das Gesicht schien leblos. Die Stücke wurden am Beginn der Stunde nie komplett vorgespielt. Die Lehrkraft unterbrach an geeigneter Stelle – beispielsweise am Schluss eines Abschnitts. Wenn die Schülerinnen sich jedoch zu oft verspielten, wurde auch schon vorher abgebrochen.
So verhielt es sich nicht nur bei den kleinen Schülerinnen in der zweiten und fünften Klasse. Auch bei der Achtklässlerin oder bei mir selbst wurde während des ersten Vorspiels immer abgebrochen, auf Fehler hingewiesen und Verbesserungsvorschläge wurden mitgeteilt. Handelte es sich z. B. um Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Exposition, war es die Aufgabe der Schülerinnen, diese selbstständig auf die Reprise zu übertragen, ohne dass diese daraufhin im Unterricht noch einmal gespielt wurde. Der Unterricht bestand aus permanenten Unterbrechungen und Verbesserungen des Spiels, was nicht nur für SchülerInnen aus Deutschland schnell so wirkt, den Anforderungen nicht zu genügen bzw. nie gut genug zu sein.

Lob

Lob ist ein sehr selten gebrauchtes Gut während des russischen Klavierunterrichts. Wie bereits erwähnt , entscheiden die SchülerInnen sich mit Beginn des Klavierunterrichts, etwas Neues zu lernen und hart daran zu arbeiten, vorhandene Fähigkeiten immer weiter zu verbessern. Fortschritte werden von der Lehrkraft daher als selbstverständlich angesehen. In einem Gespräch sagte mir eine der beiden Lehrerinnen, dass die Musikschule in Russland nicht dazu da sei, den SchülerInnen zu berichten, wie gut sie (schon) seien, sondern sie zu lehren, zu belehren, weiterzubringen und voranzutreiben, damit sie immer besser werden. Lob bürge dabei nur die Gefahr, dass sich die SchülerInnen auf ihren Erfolgen ausruhen. Die Lehrerin sagte mir auch, die SchülerInnen wären nicht mehr hier, wenn sie nicht gut genug wären. Daher sei ständiges Lob überflüssig und eher schädlich, was den weiteren Arbeits- und Übeverlauf der SchülerInnen angehe.

Überforderung

Dieses seltene bzw. zu vermeidende Loben wird noch gesteigert durch eine weitere „Methode“ – die der Überforderung der SchülerInnen. Es wurde grundsätzlich mehr erwartet, als die individuelle Schülerin innerhalb einer Woche neben ihren Schulaktivitäten schaffen konnte. Die hohen Erwartungen der Lehrkräfte hängen laut der anderen Lehrerin mit der Angst zusammen, dass das Niveau der SchülerInnen sinken könnte. Die Devise lautet für jede Lehrkraft daher: „Verlange mehr, damit dein Schüler das schafft, was du als Lehrerin minimal von ihm erwartest!“ Diese Methode führte allerdings auch nicht zu Demotivation, wie ich es zunächst vermutet hatte. Keine der beobachteten Schülerinnen fing an, weniger zu üben, nachdem nur kritisiert und nicht gelobt wurde. Entweder sie übten genauso viel oder genauso wenig wie vorher. Eine Steigerung fand nur gegen Ende bei der Fünftklässlerin statt, da sie Angst hatte, vom Konservatorium geschmissen zu werden, wenn sie weiterhin „so wenig“ Zeit zum Üben investiere. So wurde es ihr von ihrer Lehrerin angedroht.

Anfassen

Eine Methode, die mich zunächst sehr abgeschreckt und später doch fasziniert hat, war die des permanenten Anfassens der Schülerinnen im Unterricht. Beim Hospitieren schien es mir anfangs so, als sei die Schülerin ein Objekt – etwa ein Weihnachtsbaum, der so lange hin und her geschoben wird, bis er endlich senkrecht und an der richtigen Stelle im Raum steht. Die Schülerinnen wurden nicht darauf vorbereitet, dass die Lehrerin ­ihnen gleich den Rücken richtet, auf ihrem Handgelenk den Anschlag vorspielt, ihren fünften Finger rund auf die Taste stellt, ihre Hand um den Arm der Lehrkraft gelegt wird usw. Es wurde einfach gemacht – und das nicht einmal pro Unterrichtsstunde, sondern permanent und ohne Vorwarnung.
Am Anfang hat mich dieses unangekündigte Anfassen im eigenen Klavierunterricht bei meiner russischen Klavierlehrerin sehr erschreckt. Aber ich habe mich schnell daran gewöhnt und es selbst nicht als Grenzüberschreitung empfunden, wie es beim Hospitieren zunächst auf mich wirkte. Dieses Anfassen half meiner Meinung nach meist besser als Worte, die einen Sachverhalt ausführlich beschreiben. Darüber hinaus wird damit viel Zeit gespart. Die SchülerInnen verstehen meist auf Anhieb, wie sie es besser machen sollen. Das Anfassen und Richten half dementsprechend der professionellen Haltung beim Spielen, der Fingerstellung und -technik, aber auch beim Versuch, mit beiden Händen gleichzeitig zu spielen, jedoch unterschiedlich zu artikulieren und dynamisch zu gestalten. Diese Methode empfand ich letztendlich als besonders effektiv, weil dadurch schnell qualitativ hoher Fortschritt gewährleistet werden konnte.

Diskussion

Das Praktikum am russischen Konservato­rium und an der russischen Musikschule haben mir gezeigt, wie durch starke Lehrerautorität, der disziplinierte SchülerInnen mit großem Respekt und hoher Konzentrationsleistung gegenüberstehen, und durch effektive Methoden wie Richten und Vormachen durch Anfassen schnell und qualitativ hochwertig am Klavier gelernt werden kann. Die schnelle Erziehung zur Selbstständigkeit, die durch selbstständiges Finden und Verbessern von Fehlern sowie eigenes Erkennen von Strukturen und Harmonien geprägt ist, beschleunigt ebenfalls den Lernprozess.
Andere Kriterien des russischen Klavierunterrichts wie etwa die permanente Angst der SchülerInnen, das Gefühl, nicht gut genug zu sein, und das ausbleibende Lob erzeugen ­sicherlich Diskussionsbedarf. Andererseits stellt sich mir die Frage, ob Lob und zu hohe Anforderungen nicht eine Sache der Gewöhnung darstellen. Ist es wirklich schlimm, im Klavierunterricht selten gelobt zu werden, wenn man die Gründe dafür kennt und es nie anders gewohnt war? Ähnlich verhält es sich mit der Angst. Auch in Deutschland haben viele Studierende und PianistInnen Angst vor Vorspielen und vor dem Unterricht, obwohl der Druck von außen bei Weitem nicht so stark ist wie in Russland. Ich glaube daher nicht, dass die Angst der SchülerInnen allein das Resultat der russischen Klavierpädagogik darstellt.

Lesen Sie alle Beiträge in Ausgabe 1/2018.