Wiener Konzerthaus © Simon Mrugalla

Petri-Preis, Axel

„Ich habe zwei Seelen in meiner Brust“

Zwischen Kunst und Pädagogik – Selbstkonzepte von MusikerInnen in der Musikvermittlung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2021 , Seite 12

„To be a performing artist in the next century, you have to be an educator, too.“1 Diese vielzitierte Aussage von Sir Simon Rattle am Übergang zum neuen Jahrtausend hat sich für viele „klassische“ MusikerInnen längst bewahrheitet. Doch welches Selbstbild ent­wickeln MusikerInnen, wenn sie in der Musikvermittlung tätig sind? Und welche Schlüsse lassen sich ­daraus für ihre Ausbildung und Professionalisierung ziehen?

Aktivitäten im Bereich der Musikvermittlung2 wurden vor allem innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte zu einem wesentlichen Bestandteil der beruflichen Tätigkeit von MusikerInnen, ganz gleich ob sie freiberuflich oder in Orchesteranstellungen tätig sind.3 Einerseits ­erwarten Orchester und Konzertveranstalter ein entspre­chendes Engagement in zunehmendem Ausmaß im Rahmen der bestehenden musikvermittelnden Angebote, andererseits finden immer mehr MusikerInnen in diesem Bereich eine lohnenswerte Erweiterung ihres Tätigkeitsspektrums. Sie spielen beispielsweise in Kinderkonzerten, planen und führen Community-Projekte mit Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Hintergründe durch oder entwickeln Präsentationsformate, die einerseits einem bestehenden Publikum neue ästhetische ­Erfahrungen ermöglichen sollen und andererseits Menschen ansprechen sollen, die aus verschiedenen Gründen bis dato nicht ins klassische Konzert gehen.4
Der vorliegende Artikel richtet den Fokus darauf, wie MusikerInnen, die bereits über einen längeren Zeitraum in der Musikvermittlung tätig sind, sich selbst sehen und beschreiben. Wie beurteilen sie ihr einschlägiges Wissen und Können? Wo verorten sie sich im Spannungsfeld zwischen künstlerischen und pädagogischen Anforderungen? Welche Selbstbezeichnung wählen sie? Dieses „Wer-ich-bin und Was-ich-kann“5 von Menschen kann als Selbstkonzept bezeichnet werden, das die „Gesamtheit […] der ­Einstellungen zur eigenen Person“6 umfasst und Selbstbeschreibungen ebenso wie Selbstbewertungen beinhaltet.7
Um die musikbezogenen Selbstkonzepte empirisch zu erforschen, führte ich leitfadengestützte Interviews mit zwölf MusikerInnen (OrchestermusikerInnen ebenso wie freischaffende MusikerInnen) im Alter von 23 bis 59 Jahren, die allesamt – wenn auch unterschiedlich lang und in verschiedener Intensität – in der Musikvermittlung tätig sind. Bis auf eine Musikerin absolvierten alle InterviewpartnerInnen ein Konzertfachstudium, die Hälfte studierte überdies Instrumental-bzw. Gesangspädagogik, drei von ihnen belegten ein spezifisches Studium der Musikvermittlung. Ausgehend von den präsentierten Erkenntnissen formuliere ich am Ende des Beitrags Anregungen hinsichtlich der Ausbildung bzw. Professionalisierung von MusikerInnen.

„Ich studiere nur Konzertfach, habe also kein Know-how“8

Ihre Tätigkeit in der Musikvermittlung stellt an die MusikerInnen Anforderungen, die sich vom klassischen Konzertieren abheben: Sie moderieren, schauspielern, improvisieren mit musikalischen Laien, erarbeiten auf bestimmte Zielgruppen zugeschnittene Programme und vieles mehr. Studien zeigen, dass AbsolventInnen von künstlerischen Studien sich in der Regel in ihrer formalen Ausbildung nicht adäquat auf ihr späteres Berufs­leben vorbereitet fühlen.9 Dies zeigt sich auch in meinen Interviews, in denen die MusikerInnen beschreiben, dass sie das nötige Wissen und Können für Musikvermittlung weder in künstlerischen noch in künstlerisch-pädagogischen Studien, sondern überwiegend in Form eines „learning by doing“ in entsprechenden Projekten erwarben. Ilia z. B. erzählt wie viele andere auch, dass er in die Praxis „hineingerutscht“ sei und vieles intuitiv mache. Dora betont in diesem Zusammenhang, dass man sich „immer weiter fortbilden und weiterbilden muss und dass das gar kein Ende nehmen kann“.
Drei MusikerInnen des Samples besuchten deshalb einen postgradualen Lehrgang für Musikvermittlung, um „überhaupt wirklich Dinge von der Pieke auf zu lernen“. Für manche InterviewpartnerInnen führte das Gefühl, nicht über genügend Wissen zu verfügen, zu problematischen Situationen, wenn sie in entsprechenden Projekten keine Unterstützung erhielten. So erzählt Fiona zum Beispiel, dass es ihr sehr schwer falle, in musikvermittelnden Formaten „Selbstbewusstsein zu entwickeln, weil […] ich das Gefühl hab, ich kann diesem Standard [den eigenen Ansprüchen] nicht gerecht werden“.
Die MusikerInnen beschreiben sich also als beständig Lernende, die sich Wissen überwiegend im Tun aneignen und dabei auf Unterstützung und eine förderliche Umgebung angewiesen sind.

1 zitiert nach Reinhart von Gutzeit: „Musikvermittlung – was ist das nun wirklich? Umrisse und Perspektiven ­eines immer noch jungen ­Arbeitsfeldes“, in: Wolfgang Rüdiger (Hg.): Musikvermittlung – wozu? Umrisse und Perspektiven eines jungen Arbeitsfeldes, Mainz 2014, S. 19-36, hier: S. 21.
2 Für eine Definition des Begriffs sei z. B. verwiesen auf Hendrikje Mautner-Obst: „Musikvermittlung“, in: Wilfried Gruhn/Peter Röbke (Hg.): Musik lernen. Bedingungen, Handlungsfelder, Positionen, Innsbruck 2018, S. 339. Auf die Begriffsgeschichte und -verwendung gehe ich ausführlich ein in Axel Petri-Preis: „Musikvermittlung – ein musikpädagogischer Streitbegriff“, in: Diskussion Musikpädagogik, 84, 2019, S. 5-9.
3 vgl. z. B. Dawn Bennett: Understanding the Classical Music Profes­sion. The Past, the Present and Strategies for the Future, New York 2016; für Österreich: Sarah Chaker/Axel Petri-Preis: „Professional Musicians as Educators. Activities, challenges, motivations“. Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen der Tagung „Creative identities in transition“ (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 27. bis 29. Februar 2020).
4 Einen Überblick über Formate der Musikvermittlung bietet beispielsweise Constanze Wimmer: Exchange – Die Kunst, Musik zu vermitteln. Qualitäten in der Musikvermittlung und Konzertpädagogik, Salzburg 2010.
5 Maria Spychiger: „Identität und Selbstkonzept“, in: Michael Dartsch et al. (Hg.): Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse, Münster 2018, S. 254.
6 Hans Dieter Mummendey: Psychologie des „Selbst“. Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung, Göttingen 2006, S. 38.
7 vgl. Lina Hammel: Selbstkonzepte fachfremd unterrichtender Musiklehrerinnen und Musiklehrer an Grundschulen, Berlin 2011, S. 103 f.
8 Alle Zitate stammen aus Interviews, die ich im Rahmen meiner Dissertation „Musikvermittlung lernen. Eine Analyse von Lernwegen klassischer Musiker_innen“ führte. Alle Interviewdaten wurden von mir anonymisiert. Die Zitate sind zur besseren Lesbarkeit sprachlich geglättet.
9 vgl. z. B. Esther Bishop: „Musikstudium… und danach“, in: Martin Tröndle (Hg.): Das Konzert II, Bielefeld 2018, S. 333-346; Heiner Gembris/Jonas Menze: „Zwischen Publikumsschwund und Publikumsentwicklung. Perspektiven für Musikerberuf, Musikpädagogik und Kulturpolitik“, in: Tröndle, a. a. O., S. 305-332.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2021.