Petri-Preis, Axel
Im fruchtbaren Zwischen
Zum Gemeinsamen von Musikvermittlung und Community Music
Mit kultureller Teilhabe, Partizipation und Inklusion teilen sich Musikvermittlung und Community Music zentrale gemeinsame Werte und Ziele. Und doch erfolgt in Theorie und Praxis in der Regel eine klare Abgrenzung voneinander, indem Differenzen benannt werden. Wo aber könnte – im Wissen um die Verschiedenheit der beiden Felder – ihr Gemeinsames verortet werden? Und welches Potenzial könnte in einem engeren Austausch ihrer AkteurInnen liegen?
Musikvermittlung und Community Music gewannen in den vergangenen zwei Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum sowohl im theoretischen Diskurs als auch in der Praxis steigende Bedeutung und Aufmerksamkeit. In beiden Feldern sind Prozesse der Akademisierung, Institutionalisierung und Professionalisierung deutlich erkennbar.1 Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund umfassender gesellschaftlicher Veränderungen zu erklären, die alle Teilbereiche der Gesellschaft durchdringen und beeinflussen. So beschreibt der Soziologe Andreas Reckwitz die gegenwärtige spätmoderne Gesellschaftsform als „Gesellschaft der Singularitäten“, in der Individualität, Partikularität und das Außergewöhnliche sozial und ökonomisch prämiert würden.2
Angesichts dieser radikalen Individualisierung sowie von Phänomenen wie Globalisierung, Mobilität und Migration werden die Hintergründe und Lebensentwürfe von Menschen zunehmend diverser und immer weniger vergleichbar. In immer geringerem Ausmaß kann daher von gemeinsam geteilten Wissensbeständen, kulturellen Praktiken und Werten ausgegangen werden, sodass sich zunehmend die Frage stellt, was unsere Gesellschaft eigentlich zusammenhält, wenn die Menschen nur mehr wenig miteinander verbindet. Rechtspopulistische und nationalistische Gruppierungen und Strömungen machen sich die Verunsicherung zunutze, die aus der zunehmenden gesellschaftlichen Singularisierung resultiert, indem sie ihr einen starken Gemeinschaftsbegriff gegenüberstellen.
Diese Entwicklungen wirken sich auch auf die musikpädagogische Praxis aus, die auf künstlerischer und künstlerisch-pädagogischer Ebene nach Antworten darauf sucht. Für die schulische Musikpädagogik beschreibt Mario Dunkel beispielsweise, wie im Musikunterricht mit populistischen und nationalistischen musikalischen Praxen umgegangen werden kann.3 Dem Band Vorzeichenwechsel, herausgegeben von Peter Röbke, Ivo I. Berg und Hannah Lindmaier, liegt die These zugrunde, dass „Musikpädagogik mehr denn je in den Sog gesellschaftlicher und politischer Spannungsfelder zu geraten“ scheint.4 Die Diversität der Gesellschaft, so die HerausgeberInnen, fordere das Selbstverständnis einer sich als exklusiv verstehenden künstlerischen Ausbildung heraus. Musikvermittlung und Community Music wiederum, um die sich der vorliegende Beitrag dreht, fordern das Selbstverständnis eines öffentlichen Musiklebens heraus, in dem die sogenannte klassische Musik oder europäische Kunstmusik eine hegemoniale Position einnimmt. Klassische Musik ist, wie Anna Bull eindrücklich zeigt, „ein idealer Ort für das Bürgertum, um zur Sicherung ihrer Privilegien symbolische, kulturelle und ökonomische Grenzen zu konstruieren“.5 Als Distinktionsmaschine und Ort bürgerlicher Selbstvergewisserung verfügt der klassische Konzertbetrieb über zahlreiche Exklusionsmechanismen und gerät angesichts gesellschafts- und kulturpolitischer Forderungen nach mehr Diversität und unter dem Eindruck schwindenden Publikums zunehmend unter Legitimations- und Veränderungsdruck.
Mit ihrem Fokus auf Werte wie kulturelle Teilhabe, Partizipation und Inklusion6 entwickeln AkteurInnen der Musikvermittlung und Community Music zahlreiche Präsentations- und Partizipationsformate,7 in denen demokratischere Ansätze der Produktion, Aufführung und Rezeption von Musik erprobt werden. Sie tun dies aus ihrer je unterschiedlichen fachlichen Sozialisation in zwei Feldern, die trotz deutlicher Unterschiede auch über historische und inhaltliche Schnittmengen verfügen, wie ich noch zeigen werde.
Der Abstand zwischen Musikvermittlung und Community Music
In der Literatur ist eine deutliche Bemühung zur Abgrenzung zwischen Musikvermittlung und Community Music erkennbar, wie ich beispielhaft an zwei Texten der Musikvermittlerin Irena Müller-Brozovic und der Community Musikerin Alicia de Bánffy-Hall zeigen möchte. Beide Autorinnen konstatieren aus ihrer jeweiligen Perspektive zwar Schnittmengen zwischen Musikvermittlung und Community Music, grenzen in der Folge jedoch ihre „eigene“ Praxis von der jeweils anderen ab, indem sie Differenzen beschreiben. So stellt de Bánffy-Hall fest: „Overall, this wide and varied field [von Musikvermittlung] is still mainly concerned with the mediation of musical knowledge, appreciation of classical pieces of music and skill development from an institutional perspective […] and has no intersections with community music in terms of its emphasis on social change, context and focus on the participant’s needs and aims.“8 Müller-Brozovic wiederum sieht zwar Schnittmengen in partizipativen Projekten, konstruiert jedoch eine Differenz über unterschiedliche Verständnisse von „Musik als sozialem Prozess“ in der Community Music und einer Kunstwerkorientierung in der Musikvermittlung.9
Diese Grenzziehungen sind auf Grund der inhaltlichen Nähe von Musikvermittlung und Community Music mit Pierre Bourdieu als Symptom eines Kampfes um Ressourcen und symbolische Macht interpretierbar. Mein Ziel in diesem Beitrag ist allerdings, statt einer Abgrenzung durch Differenz eine produktive Nutzung der Verschiedenheit vorzuschlagen, um zu erkunden, worin das daraus entstehende Gemeinsame bestehen könnte. Bei meinen Betrachtungen greife ich eine Denkfigur des französischen Philosophen François Jullien auf. Er argumentiert, dass ein Verständnis von Unterschieden als Differenz zu Isolation und Essenzialisierung führe.10 Für Musikvermittlung und Community Music würde das ein statisches Verharren in der Verschiedenheit bedeuten, was die Fluidität beider Felder ebenso außer Acht ließe wie die Möglichkeit einer produktiven Nutzung ihrer Unterschiede. Jullien empfiehlt vielmehr, Unterschiede als Abstände zu verstehen, die in einer Spannung zueinander stehen und dadurch in der Lage sind, aus einem fruchtbaren Zwischen etwas Gemeinsames hervorzubringen.11 Ich werde daher zunächst versuchen, die jeweiligen Eigenheiten samt ihrer Überschneidungen herauszuarbeiten, und in der Folge ein Gemeinsames vorschlagen.
1 vgl. Chaker, Sarah/Petri-Preis, Axel: „Professionalisation in the field of Music Mediation“ (= Musikvermittlung), unveröffentlichter Vortrag im Rahmen der Konferenz isascience 2019; de Bánffy-Hall, Alicia: The development of community music in Munich, Münster 2019.
2 vgl. Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2021, S. 19.
3 vgl. z. B. Dunkel, Mario: „Populismus und autoritärer Nationalismus in europäischen Musikkulturen als musikpädagogische Herausforderung“, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, Sonderedition 5, 2021, S. 121-137.
4 Berg, Ivo I./Lindmaier, Hannah/Röbke, Peter: Vorzeichenwechsel. Gesellschaftspolitische Dimensionen von Musikpädagogik heute, Münster 2019, S. 7.
5 Bull, Anna: Class, Control and Classical Music, New York 2019, S. xiv, eigene Übersetzung.
6 vgl. hierzu auch Petri-Preis, Axel: „Musikvermittlung und Community Music als Motoren von Inklusion im klassischen Konzertleben“, in: Hennenberg, Beate/Röbke, Peter: Inklusives Musizieren. Praxis, Pädagogik, Ästhetik – am Beispiel der All Stars Inclusive Band Wien, Münster 2022, S. 349-362.
7 Zur Unterscheidung von „presentational“ und „participatory formats“ vgl. Turino, Thomas: Music as Social Life: The Politics of Participation, Chicago 2008.
8 de Bánffy-Hall, Alicia, The development of community music in Munich, S. 58.
9 Müller-Brozovic, Irena: „Musikvermittlung“, www.kubi-online.de/artikel/musikvermittlung (Stand: 21.6.2022).
10 vgl. Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität, Berlin 2017, S. 76.
11 vgl. ebd., S. 77.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2022.