Mahlert, Ulrich
Imaginierter Zwiegesang
Heinz Holligers „Wiegenlied für ERiCH“ (2010) für Klavier
Der Übergang vom Wachen ins Schlafen ist das „Thema“ von Wiegenliedern. Wer stirbt, entschläft. Heinz Holliger hat ein instrumentales Wiegenlied geschrieben, das für einen Toten bestimmt ist und ihn in die Transzendenz hebt.
Wiegenlieder sollen Kinder in den Schlaf gleiten lassen. Mutter oder Vater wiegen ihre kleinen Kinder in den Armen und singen dazu. Oder das Kind liegt bereits im Bett und das Singen schafft eine friedvolle Atmosphäre, bewirkt ein Gefühl von Geborgenheit, die das Einschlummern erleichtert.
Wiegenlieder haben beruhigende Texte, die zauberhafte Vorstellungen enthalten. Schlaf’, Kindlein schlaf’ (Text aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn, Melodie von Johann Friedrich Reichardt) oder Wer hat die schönsten Schäfchen (Text von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Melodie wiederum von Johann Friedrich Reichardt) sind bekannte Wiegenlieder.1 Die Melodie von Brahms’ Wiegenlied Guten Abend, gut’ Nacht op. 49 Nr. 4 erklingt in vielen Kinderzimmern aus Spieluhren, allerdings ohne die sanft schaukelnde, den Dreiertakt zum Schweben bringende Klavierbegleitung, mit der Brahms die Melodie poetisiert.
Seit Generationen werden solche Lieder gesungen und haben sich als Einschlafhilfen für Kinder bewährt. Wiegenlieder zeichnen sich durch leicht singbare, eingängige Melodien aus. Ihr musikalischer Reiz kann durch eine zarte schlichte Begleitung gehoben werden, aber auch unbegleitet entfalten sie ihren Zauber.
Auch instrumentale Wiegenlieder bilden eine Traditionskette. Nr. 6 aus Robert Schumanns Sammlung Albumblätter op. 124 heißt „Wiegenliedchen“, Nr. 16 trägt den Titel „Schlummerlied“; Felix Mendelssohn Bartholdys Lied ohne Worte op. 67 Nr. 6 wird „Wiegenlied“ genannt. Es sind melodiöse Stücke mit schlichter Begleitung. Schumann wählt dafür sanft fließende Figuren, Mendelssohn ein behutsam schaukelndes Modell; durchweg wird die Textur das gesamte Stück über beibehalten und erzeugt so einen homogenen, sich ruhig fortspinnenden Verlauf.
Pianistisch anspruchsvoller ist Frédéric Chopins Berceuse op. 57. Über einer fast durchgehend beibehaltenen eintaktigen Bassfigur im 3/8-Metrum entfaltet sich ein Kosmos von subtilen, teils gesanglichen, teils virtuosen Figurationen. Ruhe und Bewegtheit sind vollendet ausbalanciert.
Helmut Lachenmanns 1963 komponierte Wiegenmusik setzt die Gattungstradition fort mit „einem Gefüge vielfach verzweigter, oft weit gedehnter, oft eng zusammengedrängter Arpeggio-Figuren“.2 Die Figurationen sind instrumentaler Natur, sodass Lachenmann dem Titel Wiegenmusik hinzufügte: „nicht ‚Wiegenlied‘“. In der Anlage nimmt Wiegenmusik auf das vorletzte Stück von Schumanns Kinderszenen op. 15 Bezug: „Es nähert sich nach anfänglichen Verdichtungen mehr und mehr einem Zustand der völligen Ruhe an: ‚Kind im Einschlummern‘, quasi als Psychogramm abgewandelt.“3
Denkmal für den verstorbenen Bruder
Heinz Holligers Klavierstück Wiegenlied für ERiCH ist nicht Kindern, sondern einem Toten zugedacht. Holliger schrieb es für seinen Bruder Erich Holliger, der am 22. Juli 2010 im Alter von 74 Jahren verstarb. Das Stück entstand vier Tage nach Erich Holligers Tod am 26. Juli 2010; es reagiert somit unmittelbar auf die Todesnachricht. Das Stück ist wortlos, sein Ausdrucksgehalt gibt sich rein instrumental kund.
Holligers Wiegenlied verläuft wie die Stücke von Schumann, Mendelssohn und Chopin im 3/8-Metrum (nur einmal, in der Mitte der dritten Akkolade, kommt es zu einer 2/8-Bildung). Allerdings verzichtet der Komponist auf Taktstriche. Es gibt keine taktmetrischen Schwerpunkte, vielmehr soll das Dreiermetrum offenbar in einem schwebenden Kontinuum erklingen.
1 Als reichhaltige Sammlung sei empfohlen: Wiegenlieder. Die schönsten Schlaf- und Wiegenlieder, mit CD zum Mitsingen. Nach einer Idee von Cornelius Hauptmann. Mit Bildern von Frank Walka, Stuttgart 2009.
2 Helmut Lachenmann im Text zur Notenausgabe von Wiegenmusik, Edition Breitkopf 9458, Wiesbaden 1980.
3 ebd.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2024.