Krönig, Franz Kasper

Immer der gleiche Schüler?

Sequenzielle Homogenisierung – Oder: Was kann der Einzelunterricht vom Gruppenunterricht lernen?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 46

Könnte es sein, dass individuelle Förderung im Einzelunterricht nicht auto­matisch durch die Eins-zu-Eins-Betreuung gegeben ist, sondern nur unter ganz bestimmten, unwahrscheinlichen Bedingungen realisiert wird? Wäre es möglich, dass der Einzelne im Einzelunterricht sogar besonders geringe Chancen hat, seine Individualität zur Geltung zu bringen? Ist das Thema “Heterogenität”, das die Diskussion um instrumentalen Gruppenunterricht bestimmt, in Bezug auf Einzelunterricht genauso wesentlich, aber bislang auf frappierende Weise ignoriert worden?

In Bands, Ensembles, beim Klassenmusizieren und in Instrumentalgruppen ist es aus mehreren Gründen selbstverständlich, dass sich fachdidaktische Zielsetzungen immer in einem Kontext allgemeinpädagogischer Fragestellungen bestimmen und verfolgen lassen und dass umgekehrt allgemeinpädago­gische Ziele im musikalischen Lernen in Gruppen eine besonders gute Lernumwelt finden. Was am Instrument vermittelbar ist, hängt unmittelbar davon ab, welche allgemeinen kommunikativen Strukturen in der Gruppe bestehen. Hören die Kinder zu, wenn die Dozentin der gesamten Gruppe etwas erklärt? Sind Kleingruppenarbeit und Peer-Teaching-Verfahren etabliert? Ist eher ein kooperatives oder ein kompetetives Klima vorherrschend? Nicht zuletzt zeigt die Erfahrung, dass sich allgemeinpädagogische Fragen – hat man sie nicht ohnehin immer im Blick – in Gruppen von selbst (z. B. als „Disziplinprob­lem“) stellen.
Der pädagogische Anspruch an die Arbeit mit Gruppen ist allerdings, dass das Pädagogische nicht nur dann thematisch wird, wenn ein (scheinbares) Problem hinsichtlich kind­licher Verhaltensweisen beobachtet wird, sondern stets mitläuft, um wahrscheinlicher zu machen, dass jedes einzelne Kind eine Lernwelt vorfindet, in der es selbstbestimmt individuelle Wege zu musikalischer Bildung gehen kann und dabei unterstützt wird, die Gruppe so mitzugestalten, dass es darin einen eigenen Platz für sich findet und die Rollen der anderen Kinder dabei wertschätzt.

Individualisierung in Gruppen

Individualisierung in Gruppen kann nicht der Versuch sein, das einzelne Kind so zu beobachten und zu behandeln, als sei eine Eins-zu-Eins-Situation gegeben. Das würde heißen, dass individuelle Förderung im Grunde in der Gruppe gegen die Gruppe stattfinden müsste. Man könnte ja nur jeweils ein Kind nacheinander individuell fördern. Individualisierung ist nicht einmal etwas, das sich überhaupt „machen“ ließe.1 Als Tätigkeit eines Dozenten wäre das Individualisieren in der Gruppe eine Überforderung und die Gruppe zeigte sich als ein strukturelles Defizit: viele Kinder mit individuellen Bedürfnissen auf der einen Seite; ein Dozent mit Mangel an Zeit, Aufmerksamkeit und Multi-Tasking-Fähigkeit auf der anderen Seite.
Vielmehr geht es dabei um Wege, auf denen die Kinder sich sozusagen selbst individua­lisieren, das heißt die Rollen einnehmen, die Instrumente spielen, die Ideen äußern, die Lernwege gehen, die ihnen entsprechen. Konkret bedeutet das, ein stark differenzierbares (nicht fest vorgegebenes) Angebot vorzuhalten.
Das sind im ersten Schritt z. B. schon die verschiedenen Instrumente, dann aber unmittelbar auch die verschiedenen Stimmen und Parts, die man den Kindern anbieten kann (Binnendifferenzierung/Differenzierung „von oben“). Binnendifferenziertes Material ist nur dann ein wesentlicher Schritt in Richtung Individualisierung, wenn die verschiedenen vorgegebenen Stimmen lediglich als Ausgangspunkt genommen werden und bei der ersten Gelegenheit für den und mit dem einzelnen Schüler abgewandelt oder fortent­wickelt werden.

1 Beziehungsweise würde man dann von einer „lehrergesteuerten Individualisierung“ sprechen, die auch – man könnte sagen: sogar – Andreas Helmke mit „Skepsis“ betrachtet (Andreas Helmke: „Individualisierung. Hintergrund, Missverständnisse, Perspektiven“, in: ­Pädagogik 2/13, S. 34-37, hier: S. 35).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2013.