Gagel, Reinhard

Improvisation als soziale Kunst

Überlegungen zum künstle­rischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2010
erschienen in: üben & musizieren 2/2011 , Seite 60

Dieses Buch wendet sich an MusikerInnen und MusikpädagogInnen mit wenig improvisatorischer Praxis ebenso wie an gestandene Improvisatoren. Hier finden sich sowohl Anregungen zum praktischen Einsteigen als auch eine Auseinandersetzung mit den theoretischen Hintergründen von Improvisationsprozessen. Gagels Buch gründet sich auf dem Wunschgedanken, Improvisation auf allen Stufen des instrumentalen Vermögens und in allen Bereichen der musikalischen Ausbildung selbstverständlich werden zu lassen, und macht auf das große soziale Potenzial gemeinsamen Improvisierens aufmerksam.
Den Einstieg bilden Überlegungen dazu, was beim erfindenden Spiel des Ensemble-Improvisierens eigentlich geschieht. Im Mittelpunkt steht dabei das Auftauchen von unvorhersehbaren Entwicklungen und Strukturen. Improvisation wird hier mit Sys­temen aus der Natur verglichen, beispielsweise mit dem Schwarm­verhalten von Fischen und Vögeln oder auch mit betriebswirtschaftlichen Prozessen, in denen unter bestimmten Bedingungen unvorhersagbare Qualitätsumschläge passieren können. Es wird untersucht, wie das klangliche Material und seine interaktive Nutzung, wie die besondere Qualität des aktiven Hörens und die Involviertheit des menschlichen Körpers den Improvisationsprozess beeinflussen.
In den folgenden Kapiteln macht der bis dahin etwas schwerfällige Wissenschaftsstil dem engagierten Tonfall des Praktikers Platz. Der Autor ist aktiver Improvisationsmusiker und als Improvisationspädagoge im Musikschul- und im universitären Bereich tätig. Er stellt konkrete, gut umsetzbare Modelle und Ansätze für das Gruppenimprovisieren vor, die zeigen, wie man Prozesse anregen und umsetzen kann. Seine Beispiele animieren zum Ausprobieren, sei es die Impro­visation in Anlehnung an die ­Gruppendynamik eines Vogelschwarms, die Arbeit mit Klanggesten oder auf Grundlage von Gagels Reihe einfacher musikalischer Spielregeln.
Der Improvisation angemessene didaktische Kriterien für den Ensemble-Unterricht werden abgeleitet und über den notwendig improvisatorischen Charakter des Unterrichts selbst wird gesprochen. Dabei werden Unterschiede zum oft gezielten Steuern des „klassischen Instrumentalunterrichts“ sichtbar. Gagel spricht von einer „Didaktik des Ermöglichens“. Improvisieren wird als Fähigkeit betrachtet, die jeder er­werben kann. Zu allen aufgeworfenen Fragestellungen bietet das Buch zahlreiche Literaturanregungen und verweist auf Musik von Kurtág bis Miles Davis.
Zum Ausklang beschreibt Gagel die Musikpraxis vielerorts entstandener offener Bühnen für Improvisation und entwickelt die Vision eines Hauses der Musik, in dem Menschen unterschiedlichsten Alters unabhängig vom Grad ihres instrumentalen Vermögens zusammentreffen, um gemeinsam zu spielen.
Anja Kleinmichel