Greuel, Thomas (Hg.)

In Möglichkeiten ­denken – Qualität ­verbessern

Auf dem Weg zu einer musikpädagogischen Diagnostik (= Musik im Diskurs, Band 21), mit DVD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bosse, Kassel 2007
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 53

Der vorliegende Band enthält ausgearbeitete Vorträge, die im Rahmen der Jahrestagungen der Gesellschaft für Musikpädagogik 2005 und 2006 gehalten wurden und sich dem Problem der Qualitätsverbesserung des Musikunterrichts auf Grund unterschiedlicher Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler widmen. Es wird der Versuch unternommen, eine auf die reale Praxis ausgerichtete musikpädagogische Diagnostik anzuregen. Als Medienpaket enthält die Veröffentlichung auch eine DVD-ROM mit zahlreichen Ton- und Videobeispielen sowie die digitale Version eines Fragebogens, der auch vom Nutzer selbst für seine Zwecke eingerichtet werden kann. Es empfiehlt sich, das Buch in Verbindung mit den digital aufbereiteten Materialien zu lesen, um einen genaueren Einblick in die Anliegen der Autoren zu gewinnen.
Theoretische Grundlagen einer pädagogischen Diagnose liefern Jürgen Grzesik und Thomas Greuel. Die im Titel des Erziehungswissenschaftlers Grzesik vorgegebenen Begriffe „Wahrnehmen, Beobachten, Diagnostizieren und Reagieren“ bilden das Grundgerüst für die Strukturierung seines Beitrags. Konkreter nähert sich Thomas Greuel einer musikpädagogischen Diagnosepraxis, indem er Ziele, Funktionen, Methoden, Qualitätsanforderungen, fachliche Grundlagen beschreibt und Gütekriterien aufstellt. Musikpädagogisches Diagnostizieren als Ergebnis zielgerichteter Tätigkeiten zur Erfassung musikbezogener Lernmöglichkeiten wird von ihm klar abgegrenzt von Leistungsbewertung, Unterrichtsplanung und empirischer Forschungspraxis und als Teil musikpädagogischen Handelns verstanden, der jedoch gleichzeitig geeignet ist, das gesamte musikpädagogische Handeln zu optimieren oder Auswahlentscheidungen zu treffen.
Um den Entwicklungsstand und die Leistungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler sowie die daraus resultierenden, nach verschiedenen Seiten hin offenen unterrichtsmethodischen Möglichkeiten feststellen zu können, kommen Beobachtungsverfahren zum Einsatz. Die auf diese Weise zustande kommenden Einschätzungen bedürfen wegen ihrer hohen Fehleranfälligkeit nach Ansicht des Autors reflexiver Kontrolle und qualitativ bestimmter Regeln. An einem Fallbeispiel erläutert Thomas Greuel die Zusammenhänge und fasst die Ergebnisse seiner Überlegungen präzise zusammen.
Modelle musikpädagogisch-diagnostischer Praxis werden von den Autoren in Zusammenarbeit mit Thomas Heyer, Ulrich Horst, Elke Sczepaniak und Martin Weber vorgestellt. Der Feststellung musikalischer Lernvoraussetzungen für die Jahrgangsstufen 3 und 5 dient ein Fragebogen, der eine vorläufige Einschätzung der Leistungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler in den Lernbereichen „Instrumentalspiel“, „Singen“, „Tanzen“ und „Hören“ erlaubt. Gezielt auf eine binnendifferenzierende Unterrichtsgestaltung ausgerichtet werden von den Autoren instrumentaltechnische Fähigkeiten in einer Klasse erhoben, um daraus Grundlagen für das Erstellen eines Arrangements abzuleiten. In Anlehnung an das von Edwin E. Gordon entwickelte Spiel „Audie“ sollen Schülerinnen und Schüler bei Motivvarianten das Originalmotiv wiedererkennen.
Eine Projektgruppe „Stimmdiagnose“ beschreibt Vorschläge zur Stimmdiagnostik an allgemein bildenden Schulen. Für die Verbreitung des Gedankens notwendiger musikpädagogischer Diagnose im Rahmen der Aus- und Weiterbildung steuern Frauke Heß und Olaf Pyras videogestützte Übungsmaterialien bei.
Inwieweit die Vorschläge musikpädagogischer Diagnose in die Unterrichtspraxis aufgenommen werden, wird davon abhängen, ob die Lehrerausbildung sie verbreitet und Lehrende den zeitlichen Aufwand nicht scheuen, pädagogisches Handeln durch unmittelbar darauf bezogene zielgerichtete, aufwändige diagnostische Verfahren zu stützen. Diskussionswürdig bleibt auch: Ist die Annahme, zur Gewährleistung eines qualifizierten Unterrichts müsse immer von den verschiedenen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler ausgegangen werden, grundsätzlich und für alle Lernbereiche gleichermaßen wichtig? Die Fachgeschichte etwa versuchte in der Konzeption der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“ über die „Neue Musik“ gleiche Ausgangsbedingungen für alle zu schaffen – und scheiterte. Sollte man bei einer Fortführung der bedenkenswerten Ansätze in die Überlegungen zur Qualitätsverbesserung des Unterrichts nicht auch die Selbsteinschätzung der Lehrenden hinsichtlich ihrer didaktischen Fähigkeiten einbeziehen?
Rudolf-Dieter Kraemer