Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen musizieren gemeinsam auf der Jazz Night des Hamburger Konservatoriums – Foto: Markus Hertrich

Schulz, Evelyn

Inklusiv studieren – das geht!

Hamburger Konservatorium: Inklusives Orientierungsjahr in Kooperation mit ARTplus

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Online-Beitrag 08

Seit dem Wintersemester 2022/23 bietet das Hamburger Konservatorium im Rahmen des Programms ARTplus den Kontaktstudiengang Inklusives Orientierungsjahr an. Dieser Studiengang ermöglicht Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, innerhalb von zwei Semestern ihre künstlerischen Talente zu evaluieren, Chancen für ein weiteres Musikstudium auszuloten, Barrieren zu überwinden und Einblicke in die Berufswelt als Musiker oder Musikerin zu erlangen.

Zentraler Bestandteil des inklusiven Orientierungsjahres ist die individuelle Betreuung bei größtmöglicher Integration in bestehende Studienabläufe. Fachbereichsleiter Anselm Simon: „Das inklusive Orientierungsjahr richtet sich an junge Menschen, die noch keine feste Berufswahl getroffen haben. Sie können Chancen und Anforderungen eines Musikstudiums in einer zugewandten Umgebung kennen lernen. Ziel ist zunächst die Entscheidungsförderung für oder gegen das Studium. Beide Entscheidungen sind positiv, denn genau das ist der Sinn des Orientierungsjahres.“[1]
EUCREA ist mit seinem Programm ARTplus der starke Partner des Hamburger Konservatoriums im inklusiven Orientierungsjahr. EUCREA ist seit 1989 der Dachverband zum Thema Kunst und Behinderung für Deutschland, Österreich und die Schweiz.[2] ARTplus ist die erste umfassende Offensive zur künstlerischen Qualifizierung und Ausbildung von Menschen mit Behinderung und findet in fünf Bundesländern statt. In Hamburg wird ARTplus durch die Behörde für Kultur und Medien finanziert. Projektleiterin Angela Müller-Giannetti: „Das Pilotprogramm will zeigen, wie künstlerische Bildung für Kreative mit Behinderung gelingen kann, und zwar außerhalb der Behindertenhilfe. Wir wollen Personen erreichen, die aufgrund ihrer Behinderung nicht den Weg auf eine Kunst- oder Musikhochschule finden würden. Ihnen soll ermöglicht werden, an regulären Bildungsangeboten teilzunehmen.“
Letztlich geht es um die Entwicklung einer Perspektive für eine musikalische Laufbahn. Anselm Simon: „Eine Behinderung ist dabei unerheblich. Als Dozent und Musiker interessiert mich, ob jemand talentiert ist und gut spielen kann. Im nächsten Schritt schauen wir Dozentinnen und Dozenten, was die Studierenden auf ihrem Weg brauchen und wie wir sie individuell am besten unterstützen können.“
Michael Petermann, Direktor des Hamburger Konservatoriums: „Dieses Programm will Chancengleichheit mit dem Ziel, eine inklusive musikalische Gesellschaft aufzubauen. 2024 ziehen wir endlich in unser neues Gebäude Musik.Werk.Stadt, wo Musik-Kita, Musikschule, Akademie und soziokulturelles Engagement sich unter einem Dach vereinen werden. Künftig bieten Barrierefreiheit und moderne, flexible Ausstattung den Studierenden optimale Lern- und Arbeitsbedingungen.“
Die beiden Studenten Ersin Gülcan (Jazz-Gesang) und Gencay Özata (Gitarre) sind die ersten ARTplus-Teilnehmer am Hamburger Konservatorium im inklusiven Orientierungsjahr 2022/23. Für beide wurden individuelle Stundenpläne erarbeitet. Sie haben sowohl Einzelunterricht als auch Theoriestunden sowie Bandtraining. Beide ziehen eine positive Bilanz aus dieser Zeit. Ersin Gülcan: „Ich habe mich am Konservatorium musikalisch enorm weiterentwickelt, praktisch und theoretisch. Und auch auf der persönlichen Ebene konnte ich viel dazulernen.“  Gencay Özata konnten wir nicht selbst fragen, denn er spricht kaum. Für ihn resümiert sein Dozent Michael Solle den bisherigen Unterricht: „Die Arbeit mit meinem Studenten ist wirklich einzigartig und interessant. Ich bin immer wieder fasziniert von seiner Musikalität und seiner enormen Auffassungsgabe. Er erlernt neue Stücke ausschließlich durch sein Gehör und durch das Beobachten von Bewegungsabläufen. Im Unterricht benötigen wir weder Noten noch viele Worte. Ich bin sehr stolz auf ihn und bin mir sicher, dass er ein wunderbarer Musiker werden kann.“
Die finanziellen Mittel für die Studierenden kommen von Stiftungen: Durch Stipendien von Hamburger Abendblatt, der Haspa Musikstiftung, der Friedrich Stiftung und der Stiftung Kulturglück wird das inklusive Orientierungsjahr erst ermöglicht.

[1] https://hamburger-konservatorium.de/studieren/studiengaenge/orientierungsjahr/ (Stand: 30.07.2023).
[2] https://www.eucrea.de/was-wir-tun/strukturprogramme/artplus-ausbildung-2021-2024 (Stand: 30.07.2023).