Gerland, Juliane

Inklusive Regel statt exklusiver Ausnahme?!

Inklusive Entwicklung von Musikschulen und Professionalisierung der Lehrkräfte

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2016 , Seite 12

Das Paradigma Inklusion und Breitenbildungsprogramme wie JeKi ­verändern den Musikschulalltag. Juliane Gerland beschäftigt sich mit den Heraus­forderungen, die diese Prozesse für Musikschulen mit sich bringen und mit Strategien zur inklusionsspezifischen Professiona­lisierung des Lehrpersonals.

Menschen mit Behinderung gehören schon seit Jahrzehnten zur Klientel der Musikschulen in Deutschland. Allerdings meist als exklusive Ausnahme. Spätestens mit Werner Probsts Modellversuch „Instrumentalspiel mit Behinderten“ (1979-1983) ist das Bemühen feststellbar, diese exklusive Ausnahme zu normalisieren und im positiven Sinn zu standardisieren.
1980 waren 0,08 Prozent der SchülerInnen an Musikschulen sogenannte Behinderte,1 1990 waren es 0,54 Prozent,2 2010 etwa 0,67 Prozent.3 Diese Entwicklung ist zunächst einmal positiv. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der Menschen mit Behinderung in Deutschland rund 13 Prozent beträgt (Statistisches Bundesamt 2015): Menschen mit ­Behinderung sind also an Musikschulen in Deutschland unterrepräsentiert. Nicht abschließend geklärt ist, ob in diesen Untersuchungen tatsächlich alle MusikschulschülerInnen mit Behinderung erfasst sind, da es natürlich nicht verpflichtend ist, eine Behinderung bei der Anmeldung in der Musikschule anzugeben, und viele Musikschulverwaltungen dies auch gar nicht abfragen.4 Hier stellt sich außerdem die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer solchen Quantifizierung. Es gilt den Spagat zu bewältigen, die Belange von Menschen mit Behinderung entsprechend zu vertreten, ohne dabei stärker als unbedingt erforderlich das Merkmal Behinderung in den Vordergrund zu stellen, damit eine spezifische Etikettierung nicht unterstützt, sondern im inklusiven Sinn abgebaut wird.
In der Zeit nach Probsts Modellversuch konzipieren zahlreiche Musikschulen spezielle Angebote für Menschen mit Behinderung, einige richten eine entsprechende Abteilung ein. Instrumentalpädagogik, Elementare Musikerziehung und Ensemblearbeit mit SchülerInnen mit Behinderung ist erst einmal in den Musikschulen angekommen, jedoch ­allein rein zahlenmäßig (siehe oben) immer noch als exklusive Ausnahme.
Gründe für diese Unterrepräsentation von Menschen mit Behinderung an Musikschulen sind in einer Barriere-Struktur zu finden, die im Kontext Musikschule auszumachen ist.5 Die Abbildung verdeutlicht, dass die Struktur der Barrieren an Musikschulen komplex ist und zum nachhaltigen Abbau dieser Strukturen an mehr als einer Stelle Umdenken, finanzielle Unterstützung und Beharrlichkeit gefordert sind.

Zwei Inklusions­beschleuniger

Dann passieren zwei Dinge recht schnell hintereinander:
1. Im Schuljahr 2007/08 beginnt im Ruhr­gebiet das Programm Jedem Kind ein Instrument (JeKi).
2. Im März 2009 tritt in Deutschland das Gesetz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft (Bundesgesetzblatt 2008).
Für die Musikschulen bedeutet das eine ­Beschleunigung des Inklusionsprozesses in zweifacher Hinsicht:
1. Durch JeKi kommen viel mehr Kinder mit zugeschriebener Behinderung in den Musikschulen an, wiederum auf zwei Wegen: zum einen durch integrative/inklusive Beschulung von Kindern im gemeinsamen Lernen in den Grundschulen und zum anderen durch JeKi an Förderschulen, die im Schuljahr 2008/ 09 dazu kommen.
2. Durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention gibt es eine veränderte und gesetzlich festgeschriebene gesamt­gesellschaftliche Bestrebung für eine aktive und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung.

1 Werner Probst (Hg.): Instrumentalspiel mit Behinderten. Ein Modellversuch und seine Folgen, Mainz 1991, S. 12.
2 ebd.
3 Irmgard Merkt: „Jedem Kind ein Instrument an Förderschulen in NRW“, in: Thomas Greuel/Ulrike Kranefeld/ Elke Szczepaniak (Hg.): Jedem Kind (s)ein Instrument. Die Musikschule in der Grundschule, Aachen 2010, S. 55-70, hier: S. 63.
4 vgl. Sven Kirsten: Musikschule für alle? Zugangsbedingungen als Schlüssel für Teilhabe und Inklusion ­(Masterarbeit Technische Universität Dortmund), Dortmund 2015.
5 vgl. Probst, S. 13 f.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2016.