© Ugur Celic

Krebs, Matthias

International vernetzt musizieren

Potenziale transnationaler Projekte am Beispiel des Kulturprojekts MUSIANDRA

Rubrik: Kooperation
erschienen in: üben & musizieren 5/2023 , Seite 42

Kooperationsprojekte haben in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Erweiterung und Bereicherung des musikpädagogischen Angebots geführt. Kooperationen zwischen Schulen und Musikschulen gibt es in mannigfaltigen Formen und mit diversen inhaltlichen Ausrichtungen. Abgesehen von Or­chestertreffen sind transnationale ­Projekte im Musikschulbereich hingegen noch selten.1 Am Beispiel des Projekts MUSIANDRA werden konkrete Erfah­rungen aus einem transnationalen Projekt zusammenfassend dargestellt.

Einblicke in Form von Videos, Podcasts und Erfahrungsberichten zur Realisierung von transnationalen Online-Proben und Konzerten wurden in einem Blog-Beitrag zusammen­getragen. Dort bietet sich auch die Gelegenheit zur Kommentierung, um die Thematik zu erweitern.
www.forschungsstelle.appmusik.de/transnationale-kulturprojekte-als-impulsgeber-fuer-innovationen-im-musikschulbereich

Projekte mit AkteurInnen aus verschiedenen Kulturen machen eine Vielfalt an Bildungskulturen erfahrbar und ermöglichen das Kennenlernen unterschiedlicher Perspektiven und Haltungen. Sie bieten die Chance, im internationalen Austausch zu musizieren, zu diskutieren und Gruppenarbeitsprozesse von der Idee bis zur Präsentation umzusetzen. Sie ermöglichen es, gemeinsam Visionen zu entwickeln und diese einem größeren Kreis von MusikpädagogInnen zugänglich zu machen.2 So können transnationale Projekte im weiteren Sinne Lernplattformen sein und eine Grundlage, um etwas Neues zu kreieren und Synergien zu nutzen. Gleichzeitig sind damit verstärkt inter- und transkulturelle Kompetenzen von Lehrkräften gefordert.
Neben der institutionellen Ebene bietet eine Internationalisierung „oft die Geschichte einer transnationalen Freundschaft und hat damit eine individuelle Seite“, wie Alexandra Kertz-Wetzel hervorhebt. Sie betrifft die Beteiligten, die sich auf den Prozess einlassen und ihn aktiv mitgestalten. Dies stellt eine individuelle Herausforderung dar und bewirkt persönliche Veränderungen – vor allem die Entwicklung eines Global Mindsets, das Fähigkeiten kultureller Flexibilität und Offenheit beschreibt und psychologische, intellektuelle und soziale Ebenen umfasst.3 So bieten transnationale Projekte zwischen Musikschulen große Potenziale einerseits für Wandel – wenn sie so angelegt sind, dass sie substanziell die Identität einer Institution betreffen und zu einer Neuorientierung führen – und andererseits für die persönliche Entwicklung von Teilnehmenden.

Music and Drama – online and together

Ziel des durch „Erasmus+“ geförderten Pro­jekts MUSIANDRA war es laut Antrag, „Kultur und Kreativität über Ländergrenzen hinweg – auch unter Coronabedingungen – mit Freude und Professionalität umzusetzen“. Das Projekt wurde im Bereich der Erwachsenenbildung bewilligt und vom 1. März 2021 bis zum 31. August 2023 durchgeführt. Im Fokus stand das Ergründen neuer künstlerisch-pädagogischer Optionen, um unter den veränderten (digitalen) Bedingungen in einen transnationalen, musikalischen Austausch zu kommen und zu bleiben.
Beteiligt waren AkteurInnen von Berufsschulen (Berlin und Izmir), Universitäten (Barcelona und Salzburg) und des Berliner Theaters Volksbühne sowie insbesondere eine große Zahl an Musikschullehrkräften (Klavier und Bandbereich) aus Musikschulen in Berlin, Charenton-le-Pont Paris und Isafjördur (Island).4 Die Zusammenarbeit war durch ein flach hierarchisch strukturiertes Miteinander charakterisiert, das von dynamischen Bewegungen der AkteurInnen in einem Feld zwischen den Polen von neu Dazugekommenen und Mitgliedern eines Kernteams geprägt war. Darüber hinaus partizipierten phasenweise ca. 20 erwachsene SchülerInnen sowie ca. 20 jugendliche SchülerInnen der Bildungseinrichtungen.
Die Projektarbeit bestand aus der Realisierung verschiedener künstlerisch-pädagogischer Vorhaben im Musik- und Theaterbereich. Dabei galt es, diverse Herausforderungen zu meistern und Strategien zu entwickeln, die eine regelmäßige Kommunikation und Beteiligung, eine geteilte Organisation sowie nicht zuletzt erfüllende musikalische Interaktionen unterstützen – in Austauschtreffen vor Ort sowie online. Darüber hinaus war die Kollaboration von dem gemeinsamen Interesse getragen, auch über das Projekt hinaus Erkenntnisse aus der Projektarbeit an Interessierte weitergeben zu wollen.
Der Prozess der Erkenntnisgewinnung orientierte sich am Stil partizipativer Forschung. Dies meint eine Herangehensweise, bei der die Menschen, um die es in der Forschung gehen soll, aktiv und gleichberechtigt am Forschungsprozess beteiligt werden.5 Damit verbindet sich das Anliegen, das Wissen der NutzerInnen und ihren Status als Akteure anzuerkennen. Das heißt die Beteiligten wurden nicht als Objekte der Forschung, sondern als Subjekte, „Co-Forschende“ bzw. „ForschungspartnerInnen“ betrachtet. Entsprechend wurden die verschiedenen künstlerisch-pädagogischen Projekte von und mit ihnen konzipiert, durchgeführt, dokumentiert, evaluiert und reflektiert – teils mit Hilfe von Fotos und Videoaufnahmen, teils mit Interviews und (Online-)Befragungen, zu deren Daten in Gesprächsrunden individuelle Les­arten miteinander verglichen wurden. Außerdem überlegten die Projektteilnehmenden gemeinsam, wie die Erkenntnisse für Interessierte aufbereitet und präsentiert werden können. Neben moderierten Konzerten wurde auch eine Projektwebseite gepflegt, Workshops wurden angeboten sowie eine Podcast-Reihe aufgezeichnet.

Proben und Bühnenperformances über das Internet

Ein Höhepunkt des Projekts war der Beitrag von MUSIANDRA im Eröffnungsprogramm der International Days 2022 an der Universität Mozarteum Salzburg (1. bis 4.12.2022), die unter dem Motto „Sharing“ standen. Im großen Konzertsaal des Mozarteums fand eine moderierte Konzert-Aufführung mit drei Bestandteilen statt, in denen über das Internet live miteinander musiziert wurde. Es wurden zwei Klavierstücke zu vier Händen von KlavierschülerInnen aus Berlin, Charenton-le-Pont Paris und Isafjördur aufgeführt, die mittels der Online-Plattform Jamulus von den jeweiligen Musikschulen aus zusammenspielten. Danach gab es ein kurzes Rockmusik-Konzert, bei dem drei MusikerInnen der Musikschulband Wildberries von Salzburg aus gemeinsam mit drei weiteren Bandmitgliedern, die sich in einem Proberaum in Berlin befanden, live performten.
Zum Abschluss des Programmbeitrags von MUSIANDRA erhielten Anwesende im Konzertsaal die Gelegenheit, eigene Erfahrungen im vernetzten Musizieren über Distanz zu machen. Dazu wurden zwei Gruppen von jeweils 15 Experimentierwilligen auf die Bühne des Salzburger Mozarteums eingeladen. Sie erhielten Kopfhörer und daraufhin die Möglichkeit, den bekannten „Andachtsjodler“ mit Orgelbegleitung – live übertragen aus der Musikschule in Berlin – zu singen. Als dann spontan das gesamte Publikum im Saal mitzusingen begann, kam Gänsehautstimmung auf.
Insgesamt wurde in den zweieinhalb Projektjahren im transnationalen Verbund mit diversen Ansätzen zum vernetzten Musizieren experimentiert.
– Im Juni 2021 einigte man sich z. B. auf ein musikalisches Vorhaben, bei dem KlavierschülerInnen der beteiligten Musikschulen in Berlin, Charenton-le-Pont Paris und Isaf­jördur ihre Stücke online über die Plattform Jamulus probten. Ein Programm aus zehn Klavierstücken zu vier Händen kam im Januar 2022 in einem Online-Konzert live zur Aufführung.
– Im Mai und Juni 2022 realisierte man drei Online-Proben der Berliner Band Wild­berries (eine Band aus fünf erwachsenen MusikschülerInnen) mit der Big-Band der französischen Partnerschule. Eine Aufführung von drei Stücken fand im Rahmen der Fête de la Musique am 21. Juni 2022 im Theater Deux Rives in Charenton-le-Pont Paris statt, bei der die Bandmitglieder der Wildberries vor Ort auf der Bühne standen.
– Von Januar bis März 2023 wurden internationale Online-Bandworkshops für Erwachsene als Schnupperkurse angeboten. Es kam eine Gruppe von ca. zehn Interessierten zustande, die aus Izmir, Berlin, Rumänien und Isafjördur an ca. 15 Probenterminen teilnahmen und schließlich als transnationale Band einen Liveauftritt vor Pub­likum bei der Abschlussveranstaltung des Projekts im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin spielte.
Eine detailliertere Darstellung der Prozesse sind in einem Beitrag auf der Webseite der Forschungsstelle Appmusik zu finden.6 Darunter auch Videos, Workshop-Folien und zusammenfassende Reflexionen zu den Fragen: Wie wurde die (Online-)Kommunikation und Zusammenarbeit im Projekt realisiert? Wie wurde die Organisation und Durchführung der Proben bewerkstelligt? Welche Sprachbarrieren haben sich gezeigt und wie haben sie sich ausgewirkt? Welche technischen Ansätze zum gemeinsamen Musizieren über das Internet sind bei der Projektarbeit von Musikschulen tatsächlich realisierbar und inwiefern haben sie sich als nützlich erwiesen?

Erweiterte Perspektive

Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Projekt MUSIANDRA ermöglichen über die Formulierung von Empfehlungen hinaus Anschlüsse an bereits vorhandene Forschungsarbeiten und theoretische Modelle. Hierzu seien abschließend einige Punkte skizziert.7
Transnationale Projekte wie MUSIANDRA sind – im Sinne von Étienne Wengers Konzept der „Communities of Practice“ (Praxisgemeinschaften) – auf Veränderungen angelegt, in denen die Mitglieder lernen. Dies wird unter anderem in den Interviews und Ergebnispräsentationen der Beteiligten deutlich, in denen Aspekte von Veränderung beschrieben und das Lernen im transnationalen Austausch reflektiert wird. Das Engagement der Gruppe bei der Evalua­tion, Dokumentation und Präsentation von Projekterfahrungen veranschaulichte, dass der Anspruch der Beteiligten, Ergebnisse zu veröffentlichen und den Referenzrahmen über die Musikschule hinaus zu erweitern, den Lernvorgang im Projekt verändern kann. Zur Formung der Wissen- bzw. Praxisgemeinschaften zeigten sich dabei Situationen als prädestiniert für enge Kooperationen und Kollaborationen zwischen den Lehrkräften (und auch Lernenden), in denen auf herausragende „Events“ wie etwa ein besonderes Konzert oder einen transnationalen Podcast hingearbeitet wurde. Zudem boten Diversität und Interkulturalität Konzepte, die auf besondere Weise ermöglichten, einen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und im dialogischen Prozess gemeinsam zu innovieren.
Gute Interaktion bedarf guter Kommunikation. Der Projektleiterin Dorlies Radike-Thiel gelang es, dass das Projekt lebendig blieb und immer neue Fragen aufkamen. In Anlehnung an den Projektantrag gab sie einen ungefähren Rahmen vor und lud dazu ein, dass sich Projektbeteiligte einbringen: „Wie können wir das gemeinsam hinkriegen? Wie können wir es noch anders machen?“ Frei nach dem Motto: Neue Erfahrungen entstehen über das Ausprobieren und weniger über das darüber nachdenken. Zudem konnten verschiedene Ansätze erprobt werden, die sprachliche sowie auch technische Hürden minimieren. Dabei zeigte sich insgesamt eine hohe Kompetenz bei der Verwendung der Online-Plattformen, die sich als soziales Medium erwiesen haben, um Leute zusammenzubringen. Darüber hinaus fand vielfältige Zusammenarbeit auch in strukturell übergeordneten Bereichen statt: in Form von Konzerten, Workshops sowie öffentlichen Treffen mit PolitikerInnen – wobei das Thema „(Digitale) Musikpraxis über Ländergrenzen hinweg” große Aufmerksamkeit erhielt.
Konflikte in der Zusammenarbeit machten hingegen implizite Regeln bzw. blinde Flecken institutioneller Strukturen sichtbar und verhandelbar. Aus der Perspektive der Organisationsforschung können solche Ver­ankerungen nach Pierre Bourdieu als „Habitus“ verstanden werden, die nicht nur das Handeln und Verhalten, sondern bereits die zugrundeliegende Wahrnehmungsweise der AkteurInnen prägen. Auch Digitalisierungsprojekte scheitern nicht selten, weil die Beteiligten die neuen Erwartungen und Standards des neuen (Praxis-)Feldes nicht erkennen.

Fazit

Die vielfältigen Aktivitäten im Rahmen des Projekts MUSIANDRA boten den Beteiligten die Möglichkeit, praktische Erfahrungen in einem neuen Bereich zu sammeln, sich künstlerische wie pädagogische Kompetenzen anzueignen und Ideen umzusetzen. Durch die transnationale Gruppe mit vielfältigen individuellen Erfahrungen und institutionellen Strukturen, aber auch genügend Projektmitteln zur flexib­len Realisierung eines reichen Austauschs, ließen sich kulturelle Einblicke sowie nicht zuletzt wertvolle Freundschaften gewinnen.

1 Ein Beispiel ist das „International Music School Seminar“ (IMS), ein grenzüberschreitender Zusammenschluss von Musikschulen aus dem Saarland, Rheinland-Pfalz, Luxemburg, Holland, Flandern, Wallonie und Nordrhein-Westfalen.
2 vgl. Sammer, Gerhard: „Internationale Studierendenforen. Schlüsselerlebnisse für zukünftige Musiklehrerinnen und Musiklehrer“, in: Diskussion Musikpädagogik, 60, 2013, S. 39.
3 Kertz-Welzel, Alexandra: „Wanderin zwischen den Welten oder: Was es bedeutet, international zu sein“, in: Bernhofer, Andreas/Losert, Martin/ Schaumberger, Helmut (Hg.): Kooperation, Kol­laboration und Netzwerke. Zusammenarbeit in musikpädagogischen Kontexten, Münster 2021, 254-261, hier: S. 257; Kertz-Wetzel, Alexandra: Globalizing Music Education. A Framework, India­na University Press, Bloomington 2018, S. 97-101.
4 bestehend aus dem Oberstufenzentrum TIEM, der Leo-Kestenberg-Musikschule und der Volksbühne in Berlin (Deutschland), der Musikschule André Navarra in Charenton-le-Pont Paris (Frankreich), der Musikschule Isafjördur (Island), der Berufsschule Karabag˘lar Atatürk in Izmir (Türkei), der Universität Barcelona (Spanien) sowie der Universität Mozarteum Salzburg (Österreich), die ab Dezember 2022 Projektpartnerin wurde.

5 vgl. Ackermann, Timo: „Nutzer*innen als Co-Forschende?! Prozess, Herausforderungen und Strategien partizipativer Forschungsansätze“, in: Rießen Anne van/Jepkens, Katja (Hg.): Nutzen, Nicht-Nutzen und Nutzung Sozialer Arbeit. Theo­retische Perspektiven und empirische Erkenntnisse subjektorientierter Forschungsperspektiven, Springer VS, Berlin 2020, S. 89-103.
6 In einem Blogbeitrag wurden eine Reihe von Videos und Podcasts sowie auch die Learnings aus dem Projekt zusammengefasst: http://forschungsstelle.appmusik.de/transnationale-kulturprojekte-als-impulsgeber-fuer-innovationen-im-musikschulbereich (Stand: 6.9.2023).
7 Eine differenzierte Darstellung sowie Ausweisung der wissenschaftlichen Quellen finden sich im Beitrag auf der Seite der Forschungsstelle Appmusik (siehe Anm. 6).

 

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2023.