© Susanne Troll

Smalla, Bernd

Jedem Kind sein Recht auf musikalische Bildung!

Interesse und Motivation fördern mit einer durchgängigen ­musikalischen Bildungsarbeit

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 22

Durchgängige musikalische Bildungsverläufe sind für die persönliche und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unverzichtbar. Wie können sie gelingen in einem Umfeld voller gesellschaftlicher Herausforderungen? Bernd Smalla sieht Chancen in einer abgestimmten Kooperation der kommunalen Bildungsträger.

Eines der ersten Konzerte, dem ich nach langer pandemiebedingter Abstinenz folgen konnte, war ein Gastspiel der Deutschen Streicherphilharmonie unter der Leitung von Marek Janowski in Wuppertal. Ein beeindruckendes Erlebnis, wie die jungen Musikerinnen und Musiker im Orchesterspiel zu viel mehr wurden als der Summe talentierter, wohl auch fleißiger und zielstrebiger junger Streicher, wie sie für die Zeit des Spielens ­ihre sechzigfache Individualität eintrugen in eine gemeinsame Auffassung der Musik, die so in jedem Moment des Konzerts zu ihrer Musik wurde. Und wie sie, allesamt in ihrem erst zweiten Lebensjahrzehnt stehend, durch diese Anverwandlung zu einem einzigen Klangkörper verschmolzen, der sich musizierend in einen lebendigen Dialog begab mit seinem um sechs Jahrzehnte älteren und an Erfahrungen eines langen Kapellmeisterlebens überreichen Dirigenten. Kein Zweifel: Diese beiden Generationen hatten sich etwas zu sagen.
Und auch hierüber besteht kein Zweifel: Um das Interesse dieser jungen Menschen an der Musik und um ihre Motivation, im Interesse der Musik an sich selbst zu arbeiten, brauchen wir uns nicht zu sorgen. Und doch scheint es nicht nur angesichts allzeit verfüg- und abrufbarer Musikangebote ein schwieriges Geschäft geworden zu sein, Kinder und Jugendliche zum eigenen Musizieren anzuregen, ihr Interesse für die Musik zu wecken und in die Motivation umzumünzen, sich diejenigen Fähig- und Fertigkeiten anzueignen, die unser Leben um die unendlich vielfältigen Möglichkeiten des eigenen Musizierens bereichern – allein, vor allem aber in Gemeinschaft mit anderen. Zumal, wenn es sich um solche Kinder und Jugendlichen handelt, deren Sehnsucht nach künstlerischem Ausdruck durch Musik nicht im häuslichen Umfeld, nicht in der Schule und auch sonst nirgendwo geweckt wird. Und auch um solche Kinder, denen das Musizieren erst gar nicht zugetraut wird, wie Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen dies häufig erfahren müssen.
Vornehmlich diese (noch viel zu) große Gruppe von Kindern und Jugendlichen nimmt dieser Beitrag in den Blick: Ermöglichen es die Rahmenbedingungen, unter denen sie aufwachsen, überhaupt, dass sie ihren Weg zur Musik finden? Wo stehen ihrem Zugang zum Musizieren Barrieren im Weg, errichten wir womöglich selbst Schranken?

Musik für alle?

Musik gemacht haben wir schon immer. Zumindest seit der Zeit, als der Homo sapiens den Weg nach Europa gefunden hat. Aus dieser Zeit stammen die bislang ältesten uns bekannten Musikinstrumente, rund 40000 Jahre alte Höhlenfunde auf der schwäbischen Alb. Es sind bereits hochdifferenzierte Artefakte, die sicherlich schon eine längere Entwicklungszeit hinter sich hatten. Musik wurde also bereits gemacht, lange bevor der Mensch sesshaft wurde, mit dem Anbau von Kulturpflanzen begann oder gar mathema­tisches Denken entwickelte. Vermutlich hat schon damals die Musik dazu beigetragen, dass sich unter unseren Ahnen größere soziale Gemeinschaften bilden konnten, die letztendlich das Überleben der Gattung in äußerst unwirtlicher Umwelt überhaupt möglich gemacht haben. Denn wer zu mehreren synchron den gleichen Rhythmus trommeln und die gleiche Melodie singen kann (was außer dem Menschen keinem anderen Lebewesen gegeben ist), der besitzt auch die Fähigkeit, seine Handlungen mit anderen zu koordinieren, mit ihnen zu kooperieren und als Team zu handeln. Alles Fähigkeiten, die den Menschen befähigten, in einer ihm nicht sehr zugewandten Umwelt, geprägt von Nahrungsmangel ebenso wie von gefährlichen Tieren, seine individuelle Schwäche auszugleichen und nach und nach die Oberhand über diese Umwelt zu gewinnen.
Seither hat uns die Musik mit ihrer gemeinschaftsbildenden Wirkung nicht mehr losgelassen, sie gehört sozusagen zu den Grundbedingungen der Entwicklung menschlicher Gemeinschaft und damit zu unserer gesellschaftlichen DNA. Im Mai 2019, also noch vor unseren Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie, hat der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Plenumsvortrag auf dem Berliner Musikschulkongress die These vertreten, dass „die Gesellschaft wahrscheinlich längst kollabiert wäre, wenn wir nicht Musik hören und machen würden“. Die nachfolgenden diversen Lockdowns der Jahre 2020 und 2021 mit ihren Verboten auch musikalischer Veranstaltungen haben uns einen nachhaltigen Eindruck von der Stichhaltigkeit dieser These vermittelt – obwohl wir ja jederzeit zumindest auf gespeicherte Musikmedien zurückgreifen konnten. Aber die unmittelbare Begegnung von Musizierenden und Hörenden, auch die der Musikerinnen und Musiker untereinander, kurz: die Gemeinschaftsbildung durch Musik ist durch nichts zu ersetzen. Ihr Mangel wurde quer durch unsere ganze Gesellschaft schmerzlich erlebt.

Recht auf musikalische Bildung

Musik ist Bildungsgut: Das ist für MusikerInnen und MusikpädagogInnen nichts Neues und gilt eher als alter Hut, trösten wir uns doch stets mit dem beinahe zweieinhalb Jahrtausende alten Sokrates-Zitat, nach dem die Erziehung durch Musik darum die vorzüglichste sei, „weil Rhythmus und Harmonie am tiefsten in das Innere der Seele dringen und ihr Anmut und Anstand verleihen“. Mit diesem Gedanken konnten wir sicherlich den einen oder anderen Bildungspolitiker überzeugen, aber jedes Mal, wenn es um den Ausgleich von Bildungsdefiziten unserer Kinder geht, wie sie beispielsweise in den ­PISA-Erhebungen sichtbar wurden oder während der Schulschließungen der Covid-19-Pandemie entstanden sind, gilt die erste und einzig öffentlich geäußerte Sorge aller Beteiligten – von Eltern und LehrerInnen bis hin zu VertreterInnen aus Politik und Wirtschaft – reflexartig den MINT-Fächern, allenfalls noch gefolgt von den Sprachen. Ganz so, als kennten wir nicht seit 200 Jahren das humanistische Bildungsideal einer „harmonisch gebildeten Persönlichkeit“, wie es der preußische Gelehrte Wilhelm von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt hat. Einer Persönlichkeit, die durch ihren – durchaus auch lebenslang gedachten – Bildungsprozess in der Lage ist, selbstbestimmt auf allen Feldern am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, in der Wirtschaft ebenso wie in der Politik oder der Kultur. Übrigens betont bereits Humboldt, dass der Zugang zur Bildung unabhängig von Stand, Geschlecht oder Herkunft zu gewährleisten sei.
Eine solche umfassende Bildung der Persönlichkeit braucht neben der Vermittlung von Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften in gleicher Wertigkeit auch die ästhetische Erfahrung und die Entwicklung musikalisch-kreativer Kompetenzen. Allein eine solche umfassende Bildung ermöglicht es dem Einzelnen, seinen Platz in unserer pluralen Gesellschaft mit ihrer Vielzahl an Lebensentwürfen und Aufgaben zu finden. Und sie ist damit ein wichtiger Faktor für ein gelingendes Leben.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2022.