Dahlhaus, Bernd

JEgliche Kompetenz Integrieren

Zum Stand der Diskussion über das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ und zur (zukünftigen) Musikschularbeit

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2010 , Seite 50

Musikschullehrkräfte erfahren derzeit drastische Veränderungen in ihrem Beruf. Um sich diesen Herausforderungen stellen und sie meistern zu können, ist oftmals ein Umlernen erforderlich. Wie in jeder Lernsituation bedarf es für ein gutes Umlernen einer vertrauensvollen Lernatmosphäre. Wie eine solche Atmosphäre – gerade auch im Kontext von JeKi – zu schaffen sei, erläutert Bernd Dahlhaus.

Seit geraumer Zeit melden sich in der Fachöffentlichkeit die an JeKi beteiligten InstrumentalpädagogInnen zu Wort. Dies geschieht sowohl über institutionalisierte Inte­ressen­vertretungen wie ver.di als auch zunehmend direkt in offenen Leserbriefen. Dieser Seite stehen die Veröffentlichungen der Projektverantwortlichen und -begleitenden gegenüber. Hier reicht das Spektrum von offiziellen Pressemeldungen des Projektbüros und Veranstaltungsberichten der beteiligten (Musik-) Schulen über wissenschaftliche (Projektevaluations-) Publikationen bis hin zu Stellungnahmen der Projektverantwortlichen zu Leserbriefen in der Fachpresse. Zu einer dritten Gruppe – die sich bis jetzt mehr in informellen Gesprächen äußert – gehören Instrumen­tallehrkräfte, deren Instrumente (noch) nicht im Rahmen von JeKi unterrichtet werden, freiberuflich arbeitende Kollegen sowie die Lehrkräfte an den Musikschulen, welche das JeKi-Programm (noch) nicht übernommen haben.
Nach meinem Eindruck lassen sich diese Wortmeldungen insgesamt in zwei Positionen unterteilen: Auf der einen Seite stehen die kritischen Instrumentallehrer, von denen sich die JeKi-Kollegen in ihrer Berufspraxis alleingelassen fühlen und es „irgendwie richten müssen“ sowie die übrigen Kolleginnen und Kollegen, die verunsichert sind und für ihre Berufszukunft „das Schlimmste“ befürchten. Auf der anderen Seite stehen „die Verantwortlichen da oben“ – so werden sie häufig aus Lehrersicht beschrieben –, womit meist Musikschulleitungen und (diffuser) die Verantwortlichen im Bochumer Projektbüro sowie (noch diffuser) „die Politiker“ gemeint sind.
In der Diskussion werden inhaltlich hauptsächlich instrumentalpädagogisch-qualitative, organisatorische sowie finanzielle Aspekte thematisiert. Dabei benutzen beide Seiten aus der jeweils eigenen Perspektive heraus bestimmte Beschreibungen, Erklärungsversuche und Bewertungen. Mit anderen Worten: JeKi „an sich“, als objektive Tatsache, gibt es nicht, JeKi wird immer nur von Menschen erlebt und kommuniziert. JeKi gibt es also nur dadurch, dass und vor allem wie darüber kommuniziert wird. Jede Kommunikation über JeKi ist eine Äußerung aus der eigenen Sicht, gespeist aus den jeweils eigenen Erfahrungen, den persönlichen Werten, Überzeugungen, Hoffnungen und Befürchtungen.
Insofern scheint es mir nicht hilfreich, in einer so genannten „sachlichen“ Diskussion um die besseren oder stärkeren oder gar „richtigen“ Argumente, um nicht zu sagen: um die „Wahrheit“ zu ringen. Ich halte diese Art der Diskussion über JeKi, so wie sie vielfach in der Literatur, der Fachpresse und vor allem auch in vielen Podiums- sowie privaten Gesprächen geführt wird, aus diesem Grund für nicht zielführend. Ich denke, dass auf diesem Wege alle JeKi-Beteiligten kaum zu einem proaktiven und kooperativen, kraftvollen und lösungsorientierten Miteinander finden, welches die (von der einen Seite viel beschworenen) Chancen des Projekts für alle Beteiligten wirklich erlebbar und nutzbar machen.
Der zweifellos notwendige Austausch über Sach- und Qualitätsfragen erscheint mir mehr als eine Art Oberflächenphänomen, bei dem das, was die beteiligten Menschen (hier vor allem die InstrumentalpädagogInnen) eigentlich bewegt, nur andeutungsweise zur Sprache kommt. Hierzu möchte ich im Folgenden meine Sichtweise als Musikpädagoge, der nicht bei JeKi tätig ist, sowie als Coach, der intensiven Kontakt zu (JeKi-)Musikschullehrkräften hat, anbieten. Ich verbinde damit die Hoffnung, möglicherweise zur Qualitätsverbesserung der Diskussion über JeKi beizutragen.
Ich möchte anbieten, die Wortmeldungen der (JeKi-)Lehrer statt als Ausdruck von Berufsbequemlichkeit, Veränderungswiderwillen, als Unzufriedenheit per se oder gar als Inkompetenz als wertvolle Informationen über berechtigte und anerkennenswerte Bedürfnisse zu beschreiben. Als Bedürfnisse, die aus Lehrersicht kontextbezogen verständlich und überaus angemessen sind. Bedürfnisse, die, soll ein gemeinsames zielgerichtetes Miteinander gelingen (= Projekterfolg), beachtet und „übersetzt“ werden müssen.
MusikschullehrerInnen erleben sich derzeit in einer Situation der drastischen Veränderung ihres Berufs. Um diese Veränderungen (die sie nicht selbst initiiert oder gewünscht haben) als Herausforderungen annehmen und meistern zu können, ist Lernen, Neulernen oder besser: ein Umlernen erforderlich. Nun besteht ja in der Musik- bzw. Instrumentalpädagogik Konsens darüber, dass zum erfolgreichen Lernen eines Schülers bestimmte Rahmenbedingungen hilfreich, wenn nicht notwendig seien: Hierzu gehöre primär, dass Musiklehrer zu ihren Schülern eine stabile Beziehung aufbauen. Diese sei durch Wertschätzung und Anerkennung des individuellen Schülers sowie die Berücksichtigung seiner Bedürfnisse, Wünsche und Ziele gekennzeichnet. Eine Beziehung dieser Art bilde insgesamt die Vertrauensbasis für eine nachhaltig erfolgreiche fachlich-künstlerische Zusam­menarbeit, also dafür, auf eine angenehme, gute Weise gemeinsam musikpädagogische Ziele zu erreichen. Dies gelte grundsätzlich für jede Unterrichtsform, wobei bei zunehmender Schülerzahl bzw. Gruppengröße die Anforderungen an den Lehrer oder die Lehrerin andere und womöglich anspruchsvoller seien.
Diese Kontextbedingungen für gutes Lernen gelten nun nicht nur für Instrumentalschüler, auch Instrumentallehrer brauchen in einer Situation, in der sie Lernende sind und in der sie Neuland betreten sollen bzw. wollen, das Gefühl, in einer stabilen Beziehung zu sein, in der Wertschätzung und Anerkennung sowie die Berücksichtigung ihrer persönlichen Bedürfnisse als hohe und achtenswerte Werte angesehen werden: Wenn sich Menschen (persönlich und fachlich) geachtet und wertgeschätzt fühlen und wenn sie sich innerlich und äußerlich sicher fühlen, sind sie nach aller Erfahrung (eher) bereit, neue und auch schwierige Herausforderungen anzunehmen – und sogar ihr (kreatives) Leistungspoten­zial in die Sache einzubringen. In dieser Hinsicht empfinden viele JeKi-Lehrkräfte in meiner Wahrnehmung einen Mangel in ihrem Beruf, der vielfach zu Enttäuschung, Frustration und Resignation führt.
Damit nun auf der anderen Seite der JeKi-Diskussion die Verantwortlichen (die Musikschulleitungen vor Ort, die Projektkoordinatoren und weitere direkt und indirekt an JeKi beteiligte Menschen) die oben skizzierten Bedürfnisse der JeKi-Lehrer in der Projektorganisation und -durchführung vor Ort beachten und ihnen gerecht werden können – und zwar für die LehrerInnen erlebbar –, brauchen sie im Gegenzug ebenso etwas von den Instrumentallehrern. Sie brauchen profilierte Mitarbeiter mit einem gefestigten Selbstwertgefühl, die sich kompetent und stark fühlen und sich mutig und eigeninitiativ mit den Veränderungen des Umgangs mit Musik in der Gesellschaft auseinandersetzen. Mitarbeiter, die ein „Self-Commitment“, eine Selbstverpflichtung ihrem Beruf und vor allem ihrem Arbeitgeber gegenüber eingehen. Mitarbeiter, die aus ihrer inneren Berufung auch einen „realitätsnahen“, pragmatischen Beruf machen können und sich zu ihrer konst­ruktiven und zuverlässigen Mitarbeit bekennen. Mitarbeiter, die gerade auch in Veränderungsprozessen nicht einer möglicherweise unzeitgemäßen Berufstradition anhängen oder ihr sogar nachtrauern, sondern stattdessen den Beruf des Instrumentalpäda­gogen (mit) weiterentwickeln. Dass sich dies die Projekt- und Musikschulverantwortlichen von ihren Mitarbeitern (mehr) wünschen und auch einfordern, halte ich für verständlich und auch ebenfalls für berechtigt: Schließlich tragen die Führungskräfte die Verantwortung für den Erhalt und für das Überleben der Institution und somit auch für den Erhalt der Arbeitsplätze.
Aus meiner Perspektive sind diese wechselseitige Wertschätzung und Beachtung der jeweiligen Bedürfnisse, Erwartungen und Ziele entscheidend dafür, dass zunächst die Diskussion über JeKi von allen Beteiligten als fruchtbar und weiterführend und natürlich dann auch die Unterrichtspraxis der Pädagogen sowie die Arbeit der Organisatoren als sinnvoll und sinnerfüllt erlebt werden können. Nur auf dieser Grundlage gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass alle Projektbeteiligten leistungsstark, mit Freude bei der Sache und gesund sind und bleiben und dass aus dem „Projekt JeKi“ ein nachhaltiger Erfolg werden kann.
Die nächste Stufe der Qualitätsentwicklung in der Musikschularbeit – vielleicht sogar die Zukunft der Musikschulen und der Instrumentalpädagogik insgesamt – wird nicht durch noch mehr „neue“ Konzepte pädagogischer oder finanztechnischer Art, durch „neue“ Unterrichtsformen, „innovative Projekte“ oder weitere „Vernetzungen“ stattfinden, sondern primär im Innenleben der Leitungskräfte und Pädagogen. Es ist in erster Linie nicht ein Noch-Mehr an pädagogischer, organisatorischer oder betriebswirtschaft­licher Fachkompetenz im engeren Sinne notwendig, sondern eher die Bereitschaft, ja der Wunsch der Pädagogen und Führungskräfte, sich gezielt persönlich weiterzuentwickeln.
Um ein Beispiel aus der instrumentalpädagogischen Praxis zu geben: Die innere Sicherheit, das „standing“, das man braucht, um sich vor einer größeren Gruppe musiklernender Kinder kompetent und kraftvoll zu fühlen und seine musikalische Begeisterung und sein Fachwissen weitergeben zu können, um also mit anderen Worten den Instrumentalpädagogenberuf leicht(er) und angenehm(er) ausüben zu können, ist nach meiner Erfahrung nur sehr begrenzt durch eine punktuelle Methodenauffrischung oder -ergänzung auf einem Fortbildungswochenende zu erlangen. Hier wäre eine grundsätzliche Beschäftigung mit persönlichen Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern in der Berufspraxis eher hilfreich, bei der es darum geht, Denk- und Handlungsalternativen für berufliche (Belas­tungs-)Situationen kennen zu lernen, diese in einem geschützten Rahmen ausprobieren und im eigenen Tempo einüben zu können. Für ein „gutes Umlernen“ ist dabei eine Fokussierung auf bereits im Menschen vorhandene individuelle Kompetenzen und Ressourcen hilfreich, weil sie den Menschen zeigt, dass sie immer schon über Fähigkeiten und Eigenschaften verfügen, die sie nutzen und auf denen sie aufbauen können.
Musikschulen brauchen einen „Geist“, ein „Klima“ für „gutes Umlernen“, und zwar für alle an der Musikschule Beteiligten. Hierfür sind für Mitarbeiter und Führungskräfte Zeit-, Frei- und Lern-Räume sowohl im musikschulischen Alltag wie auch in Form von sorgfältig konzipierten, fortlaufenden Fortbildungen
zu schaffen, in denen „gutes Umlernen“ in geschützter, wertschätzender Atmosphäre möglich ist und initiiert, reflektiert und begleitet wird. Und genauso gelte es, dass diese Räume auch von Führungskräften und Pädagogen gewollt und genutzt würden – sowie diese Räume auch von ihnen mitgestaltet werden dürfen.
In diesem Sinne bewerte ich das JeKi-Projekt – als stellvertretend für viele weitere musikpädagogischen Initiativen und Projekte – für alle Beteiligten als eine Chance. Nämlich als eine Chance für ein Umlernen, das geprägt ist von Offenheit, gegenseitigem Respekt und Verständnis füreinander. Ein Umlernen, das Bewährtes nach sorgfältiger Prüfung möglicherweise beibehält und Neues auf eine für alle Beteiligten gute Art vorsichtig und umsichtig integriert.
Woran wäre nun dieser „Geist“, diese Haltung in der Musikschul- bzw. JeKi-Praxis konkret abzulesen? In welchem Verhalten der Beteiligten würde sich diese Haltung zeigen? Hilfreich hierfür wäre in meiner Vorstellung:
– Musikpädagogische Führungskräfte pflegen in ihren Organisationen eine offene und wertschätzende „Feedbackkultur“ mit dem Ziel des fortlaufenden Voneinander- und Miteinander-Lernens in allen Aspekten, die Lernkontexte kennzeichnen.
– Musikpädagogische Führungskräfte unterstützen ihre Mitarbeiter in ihrer Potenzialentfaltung, indem sie diese in den menschlichen Grundbedürfnissen fördern: dass Mitarbeiter sich verbunden fühlen und gleichzeitig wachsen, über sich hinauswachsen dürfen. Hierzu fragen Führungskräfte sich beispielsweise: „Woran merken meine Mitarbeiter konkret, dass mir ein gutes Betriebsklima und Zufriedenheit der Mitarbeiter wirklich wichtig sind? Was brauchen meine Mitarbeiter auf einer persönlichen Ebene an Unterstützung, damit sie sich (auch) selbst um ihre persönliche und fachliche Weiterentwicklung kümmern?“
– Musikpädagogische Führungskräfte machen sich die Haltung der Kompetenz- und Ressourcenorientierung zu eigen, indem sie u. a. das Knowhow und die Ideen der Mitarbeiter für die Ziele und die Weiterentwicklung der Institution integrieren und wertschätzend auf eine für alle Beteiligten gute Art nutzen.
– Musikpädagogische Führungskräfte nutzen auch Rückmeldungen darüber, wo in ihrer eigenen Wahrnehmung und in ihrem Denken über ihre Organisation und über sich selbst möglicherweise „blinde Flecke“ bestehen und verfahren so nicht nach dem Muster alter Lösungsversuche, um problematisch bewertete Situationen zu verändern.
Und ebenso hilfreich wäre:
– Musik(schul)pädagogen nehmen ihre Selbst­verantwortung an und beschäftigen sich aktiv und eigeninitiativ mit ihrer fachlichen und vor allem persönlichen Weiterentwicklung, indem sie die eigenen Denk-, Fühl- und Handlungsmuster besser kennen lernen und bei Bedarf einschränkende Muster in einem für sie stimmigen Tempo und einer für sie angemessenen Art verändern.
– Musik(schul)pädagogen fokussieren sich mehr auf Lösungen und Ressourcen statt auf Probleme und Defizite – dies in der Wahrnehmung der Institutionen, in der Wahrnehmung ihrer Schüler sowie auch in der Selbstwahrnehmung.
– Musik(schul)pädagogen empfinden es als Bereicherung, auch im Mitarbeiterteam neue Erfahrungen zu machen, auch hier ihre persönlichen und fachlichen Stärken auszubauen und diese anderen Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen.
– Musik(schul)pädagogen machen sich die Haltung zu eigen, dass sie die als einschränkend erlebten, offenen und verdeckten Spielregeln in musikpädagogischen Institutionen und Projekten durch eigene Handlungsinitiativen langfristig verändern können – und zwar dann auf eine gute Art, wenn sie die Bedürfnisse, Werte, Ziele aller Beteiligten berücksichtigen („Win-win-Lösungen“).
Gerade in einem musikpädagogischen Großprojekt wie JeKi geht es aus meiner Sicht da­rum, Menschen ernst zu nehmen und das, was den „pädagogischen Geist“ ausmacht, auch in der Selbstanwendung auf der Projektebene sowie in der gemeinsamen Arbeit im (Musikschul-)Team zu beachten und vorbildlich zu handhaben – und zwar auf allen Seiten der Diskussion. Insofern steht für mich aktuell auch die Glaubwürdigkeit des JeKi-Projekts (wie auch ähnlicher Projekte) sowie die Glaubwürdigkeit von Musikschularbeit, zeitgemäßer Instrumentalpädagogik und Kulturpolitik insgesamt zur Diskussion.

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