Lessing, Kolja
Kadenz
Haben Sie schon einmal eine Kadenz komponiert oder Ihre SchülerInnen dazu angeregt? Falls nicht, mögen folgende Ausführungen als Inspiration und Ermutigung dienen. Die Wurzeln des Begriffs „Kadenz“ liegen im lateinischen Verb cadere = fallen. Im musikalischen Sprachgebrauch definiert Kadenz zunächst den abschließenden harmonischen „Fall“ von der Dominante zurück zur Tonika, davon ausgehend zudem jenen Teil solistischen Alleingangs, der in einem Instrumentalkonzert zumeist am Ende eines Satzes jener harmonischen Weichenstellung (Dominant-Septakkord bzw. Tonika-Quartsextakkord) folgt und Raum zur virtuosen Selbstentfaltung eröffnet.
Hilfreich bei der Komposition – im Idealfall sogar Improvisation – einer eigenen Kadenz ist ein Blick zurück in die Musikgeschichte, zurück zu den vergangenen Stilepochen, die unterschiedliche Ausprägungen der Instrumentalkadenz hervorgebracht haben. Etliche bedeutende Komponisten schufen mit eigenen Kadenzen zu ihren Konzerten durchaus verschiedenartige Modelle für die Gestaltung jenes aus dem sinfonischen Kontext entspringenden solistischen Auftritts: Johann Sebastian Bach mit der riesigen, rauschhaft sich gleichsam in Extase steigernden Cembalokadenz im ersten Satz des 5. Brandenburgischen Konzerts, Wolfgang Amadeus Mozart mit den charmant dialogisierenden Kadenzen zu seiner Sinfonia concertante für Violine und Viola Es-Dur KV 364, Felix Mendelssohn Bartholdy mit der Kadenz zum ersten Satz seines Violinkonzerts e-Moll op. 64, in der der Solist erstmals vom vehementen Hauptakteur zum leisen Begleiter des Orchesters mutiert und somit einen ebenso nahtlosen wie intimen Übergang zum sinfonischen Geschehen ermöglicht. Ebenso neuartig ist nahezu zeitgleich Robert Schumanns Idee, die große Kadenz im ersten Satz seines Klavierkonzerts a-Moll op. 54 mit einem Zitat aus dem Kopfsatz der Grande Sonate g-Moll op. 3 seines früh verstorbenen Jugendfreundes Ludwig Schuncke einzuleiten.
Bemerkenswert ist die aus dem Geist des Neoklassizismus entsprungene Synthese aus satztechnischer Meisterschaft, kompositorischer Fantasie und höchster Virtuosität, die Komponisten um 1930 in den Kadenzen zu ihren Instrumentalkonzerten offenbaren. Es scheint, als habe die Rückkehr zur Tonalität der vermeintlich anachronistischen Solokadenz neue Impulse verliehen. Maurice Ravel hat dafür in seinen beiden Klavierkonzerten ebenso beredtes Beispiel gegeben wie zeitgleich Béla Bartók im ersten Satz seines 2. Klavierkonzerts und Karol Szymanowski in seiner Symphonie concertante op. 60 für Klavier und Orchester.
1933 gestaltet Dmitri Schostakowitsch im Finale seines ersten Klavierkonzerts c-Moll op. 35 die Kadenz als kapriziös-parodistischen Exkurs, ausgehend von der verstörend brüsk eingefügten klassischen Kadenzfloskel auf dem Dominant-Septakkord. Der hier noch ausgebreitete sarkastische Witz im Spiel mit tradierten Modellen und Motiven wandelt sich Jahrzehnte später in Schostakowitschs Kadenzen zu seinen Violinkonzerten zu apokalyptischen Szenarien.
Was zeichnet eine gute Kadenz aus? Zuallererst die überraschungsreiche Mischung aus Spiel mit vertrautem Material (figurativ, motivisch, thematisch) und instrumentaler Virtuosität, die sich stets an der Rhetorik und harmonischen Sprache des Konzerts, ebenso an der spezifischen Instrumentaltechnik des jeweiligen Komponisten orientiert. Eine gelungene Kadenz gliedert sich organisch in den formalen Gesamtbau eines Konzerts ein, sie wird sich modulatorisch in ihrer Entwicklung vom tonalen Ausgangspunkt entfernen und einen stringenten Weg zurück ins sinfonische Miteinander finden. Gerade bei Konzerten der Klassik eignen sich scheinbar unbedeutende Motive bzw. Gesten, die vielleicht sogar ausschließlich im Tutti erklingen, als unverbrauchte Elemente eines fantasievollen solistischen „Spiels“, das gleichsam rückblickend oder gegebenenfalls antizipierend ungeahnte Verbindungen zum sinfonischen Geschehen hörbar macht.
Kreieren Sie Ihre eigene Kadenz zum Mozart-, Haydn- oder …-Konzert: Sie werden dabei das so wohlbekannte Werk neu für sich entdecken!
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2020.