Bossen, Anja

Kevin und Chantal in der Musikschule

Kommentar

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 01

Ich bin zusammen mit weiteren Kollegen bei einer Geigen-Kollegin eingeladen. Wir sitzen gemütlich bei Wein und Käse zusammen und diskutieren mal wieder die Prob­leme, die JeKi & Co. für die Musikschullehrkräfte mit sich bringen. JeKi steht dabei nicht nur für JeKi selbst, sondern für die Ganztagsproblematik, schwieriger werdende Kinder, Inklusion und andere Probleme, die der Musikschullehrer von heute vor allem in Kooperationen so hat.

Ich erzähle von dem Buch Isch geh Schulhof – Unerhörtes aus dem Alltag eines Grundschullehrers (Bastei Lübbe, Mühlheim 2012), das ich kürzlich gelesen habe und das mich begeistert hat, weil es die Probleme, die wir gerade besprochen haben, richtig schön auf den Punkt bringt. Der Autor Philipp Möller beschreibt darin seine Unterrichtserfahrungen als (Musik-)Lehrer an einer Berliner Brennpunkt-Grundschule. Alle in der Runde nicken wissend, als ich davon erzähle. Genau so ist es.

Ich fasse mein Lieblingskapitel aus dem Buch zusammen, in dem es um „Chantalisierung“ und „Kevinisierung“ geht, und frage in die Runde, wer den berühmt-berüchtigten Ausspruch einer Lehrerin kennt, „Kevin“ sei kein Name, sondern eine Diagnose: „Kevin“ als fleischgewordene Häufung von ADHS, vergessenem Ritalin, Bildungsferne und alleinerziehenden Müttern, die morgens nicht aus dem Bett kommen – und „Chantal“ als weibliches Pendant. Kann jemand von uns diese „Diagnose“ aus seinem eigenen Unterricht bestätigen? Hat überhaupt schon mal jemand einen Kevin oder eine Chantal unterrichtet? Ich jedenfalls nicht – nicht einen einzigen Kevin hatte ich in 25 Jahren Musikschulunterricht, und auch keine Chantal.

Die Kolleginnen und Kollegen grübeln. Leonie, Sarah und Marie-Sophie, Torben, Jasper und Niklas-Elias lassen sich finden, neuerdings auch Muhammed, Murat, Gülay oder Mirna, allerdings nur im JeKi-Unterricht und nicht an der Musikschule. Dann sagt unsere Gastgeberin: „Doch, ich hatte mal einen Kevin. Der war neun und sehr gebildet. Als ich mit ihm einen Bach-Choral spielte, fragte ich ihn, ob er denn wisse, was ein Choral sei. Kevin antwortete: ,Doch, das weiß ich. Das wächst auf dem Meeresboden‘.“ Schade, dass niemand von uns schon mal eine Chantal im Unterricht hatte.